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Die wahre, die unwirkliche Wirklichkeit

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Die wahre, die unwirkliche Wirklichkeit

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Ernst Kreuder war ein Außenseiter, zugleich moderner Romantiker und Surrealist. Nach Kriegsende hatten seine Bücher eine lebhafte Resonanz gefunden, doch seit Beginn der fünfziger Jahre ignorierte man sein folgendes Werk weitgehend. So nimmt es kaum Wunder, daß er heute, wo mehr publiziert, aber auch mehr Bücher wieder eingestampft werden als je zuvor, in Vergessenheit geraten ist. Tatsächlich erscheint er, wenn man sich intensiver mit ihm beschäftigt, als „der vergessene Autor schlechthin“ (Benedikt Viertelhaus). Kreuder, am 29. August 1903 in Zeitz geboren und in Offenbach aufgewachsen, wurde nach einer Lehre zum Bankkaufmann und Studien der Philosophie, Literatur und Kriminologie Mitarbeiter an der Frankfurter Zeitung. 1932 und 1933 war er Redakteur beim Simplicissimus. Seine literarische Tätigkeit begann er 1939 mit den in zwielichtiger Atmosphäre gehaltenen Kurzgeschichten „Die Nacht des Gefangenen“. Kurz darauf wurde er einberufen. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft ließ er sich in Mühltal bei Darmstadt nieder. 1946 erschien bei Rowohlt Kreuders Erzählung „Die Gesellschaft vom Dachboden“. Von der Kritik wurde das Buch begeistert begrüßt: Alfred Andersch schrieb im Ruf, Kreuder sei „die erste große Hoffnung der jungen deutschen Literatur nach dem Krieg“, Edward Muir meinte im britischen Observer, es handle sich um „eine dichterische Aussage, wie man sie in den letzten hundert Jahren kaum mehr aus Deutschland vernommen habe, und Die Zeit lobte: „Romantisch ist, wie Literatur und Traum ineinander gewoben sind, aber das Lebensgefühl, das in den mutig hingejagten Seiten durchbricht, ist neu“. Kreuders Buch war die erste in andere Sprachen übersetzte neuere deutsche Prosa nach dem Zweiten Weltkrieg. In Deutschland erreichte es schnell eine Auflage von 10.000 Exemplaren. „Die Gesellschaft vom Dachboden“ ist ein „Rankenwerk bizarrer Abenteuer“ (Hans J. Schütz), das Kreuders Theorie der Dichtung erzählerisch ausfüllt: „Ich predige keine Flucht aus dem Alltag, weder vorwärts noch rückwärts, sondern ich rufe ihnen von hier oben aus zu: Wacht auf! Reißt die Brandmauern eurer Gewohnheiten nieder!“ Seine sechs jungen metaphysischen Aussteiger, die sich zu einem Geheimbund gegen die Wirklichkeit der Tatsachen zusammengefunden haben, opponieren gegen die Phantasielosigkeit, den brüllenden Stumpfsinn und die Beschränktheit des „bleiernen Alltags“. Ihn gilt es aufzusprengen und aufzulösen in eine träumerische Anarchie, in der Raum ist für romantischen Überschwang, Ironie und skurrile Eskapaden. Wie der Dichter forschen auch Kreuders Geheimbündler nach dem Sinn der Wirklichkeit, die für sie, „weil unerklärlich, Charakter und Qualität des Geheimnisses besitzt“. So lautet denn auch das Resümee dieser vom Optimismus einer geistigen Neubesinnung bestimmten Haltung: „Erst als wir die Fähigkeit, Unvernünftiges zu tun, verloren haben, haben wir auch die wahre, die unwirkliche Wirklichkeit verloren … Von Fall zu Fall gibt es nur die Auflösung am Rande, die wir an dieser hartgesottenen Wirklichkeit vornehmen können. Denn sie ist doch bestenfalls eine optische Täuschung.“ Kreuder sah keinen Sinn darin, die nationalsozialistische Katastrophe zu analysieren, er wollte nach den Jahren des Krieges, in denen die Menschlichkeit so entsetzlich gedemütigt worden war, „erwecken“. Am 2. März 1946 schrieb er an Horst Lange: „Ob wir einfach oder verstiegen schreiben, spielt keine Rolle, altmodisch oder hypermodern, es kommt allein darauf an, daß wir den Schwung haben, durch diese vermurkste Realität hindurchzustoßen in die Firmamente einer essentiellen, schwebenden, symbolträchtigen zeitlosen Welt.“ Das „Dachboden“-Thema findet sich auch wieder in seinem 1948 erschienenen Roman „Die Unauffindbaren“. Ein Makler gibt seinen Beruf auf, verläßt die Familie, um eine anarchistische Sekte, jenen geheimen Bund der Unauffindbaren zu suchen. Dessen Mitglieder, die die Menschen zu einem anderen, sinnvolleren Leben hinführen wollen, agieren in einer Traumwelt, in der sie die ihnen angemessene Realität finden. Der Roman, ein mehrbödiges, verschachteltes und sich kunstvoll arrangierendes Nebeneinander von Grotesken, Tiraden, Gesprächen und Abenteuern, surrealistischen Episoden, pointiertem Witz und verblüffenden Überraschungseffekten gilt bis heute als Kreuders Hauptwerk. 1953 erhielt der Schriftsteller den Büchner-Preis. Ein Jahr später erschien der Roman „Herein ohne anzuklopfen“. Der mit dem Erzähler identische Protagonist flieht vor der „so perfekt funktionierenden Realität“ in eine Nervenheilanstalt, um in der Isolation der Klinik „Versuche mit sich selbst“ durchzuführen, sich als bürgerliche Person zu vergessen und endlich seine wahre Identität zu finden. Er stellt fest, daß in dem Sanatorium die „Normalen“ krank und die Kranken gesund in seinem Sinne sind. Neben atmosphärisch dichten Naturschilderungen, philosophischen Diskursen, furiosen Polemiken und bitteren Satiren gegen die sich abzeichnende Wohlstandsgesellschaft finden sich beeindruckende Plädoyers für die Suche nach der verlorengegangenen Tiefe im Leben. Der Erfolg blieb diesem Anti-Roman dennoch versagt. Sarkastische Anklagen gegen den wildgewordenen Fortschritt, Kritik am Kapitalismus, der Zerstörung und Bürokratisierung der Welt und Warnungen vor einem neuen Krieg wollte man jetzt nicht mehr hören. Dabei hatten gesellschaftliche oder politische Veränderungen diesen „Anarchisten der Phantasie“ (Hans J. Schütz) nie interessiert. Zwar geißelte Kreuder schon vor fünfzig Jahren phrasendreschende Politiker, Fortschrittsfetischisten, Technokraten und Umweltzerstörer, aber allein mit der Veränderung der Institutionen war für ihn nichts gewonnen. Nur dem Utopisten, Träumer und Phantasten ist es möglich, „Aufrichtigkeit, Anhänglichkeit, Beharrlichkeit, Friedfertigkeit und Bedürfnislosigkeit“ zu leben. Und so sind es auch immer wieder die gleichen Vorwürfe, mit denen man ihm begegnete: Er habe „keinen Grund gesehen, den einmal eroberten inneren Raum der Einsiedelei zu verlassen“, er habe „das in der Nazizeit mit Sätzen für die Schublade bewährte Versteck nach 1945 nicht aufgegeben“, seine Enttäuschung, seine Bitterkeit über die Nachkriegsentwicklung „habe ihn nicht verführt, als engagierter sozialkritischer Realist aufzutreten“, schreibt beispielsweise Wilfried F. Schoeller im Vorwort zu den 1996 wiederveröffentlichen „Unauffindbaren“. Größere Auflagen waren Ernst Kreuder nach dem „Dachboden“ nicht mehr beschieden. Sein letztes Buch „Der Mann im Bahnwärthaus“ – 1973 posthum erschienen – zeigt bereits die nachlassende erzählerische Kraft des seit einigen Jahren schwerkranken Autors. Ein letztes Mal wehrt er sich hier gegen den Vorwurf, ein „Romantiker“ zu sein: „… in Teutonien ist Lustigkeit verpönt, gilt als minderwertig, knochenharte Tüchtigkeit schafft die gepriesene Atmosphäre stumpfsinniger, humorfeindlicher Betriebsnudelei. Angekettete Gehaltsempfänger sind von vornherein, was Einfälle betrifft, gelähmt. Billigstes Schimpfwort: romantisch.“ In Armut, Vergessenheit und Bitternis ist Ernst Kreuder am 24. Dezember 1972 in Darmstadt gestorben. Karlheinz Deschner sagte an seinem Grab: „Er war in seinen besten, seinen vergriffenen Büchern, ein Dichter von so unverwechselbarer Eigenart, daß es mir, ohne ihn selbst hier überschätzen zu wollen, nicht vermessen scheint zu sagen: es gibt keinen seinesgleichen unter uns, und geht es mit rechten Dingen zu, wird man sich eines Tages wieder an ihn erinnern.“

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