Die Frankfurter Buchmesse wollte der Ex-Spiegel-Chef Erich Böhme sich in diesem Jahr nicht mehr antun. In seiner Wochenend-Kolumne in der Berliner Zeitung begründete er seine Abwesenheit damit, daß selbst seriöse Verlage sich auf einer abschüssigen Bahn befänden, die mit Namen wie Naddel, Verona, Daniel, Dieter und Effe gepflastert sei und geradewegs ins Rotlicht-Milieu führe.
Der Berliner Aufbau-Verlag kann jetzt rufen: "Es ist vollbracht!" Oder wie soll man es verstehen, daß Verlagsbesitzer Bernd Lunkewitz auf der Messe ausgerechnet Michel Friedman, der vor drei Monaten als "Paolo Pinkel" und Kontaktperson krimineller Menschenhändler in die Schlagzeilen geriet, als Herausgeber für politische Bücher in seinem Haus vorstellte?
Am wenigsten verwunderlich sind dabei Friedmans Ambitionen. Takt und Zurückhaltung waren seine Sache nie, und so mußte man befürchten, daß sein Rückzug aus den Medien und die selbstverordnete Schamfrist nur kurz sein würden. Der neue Job in einer Firma, die Berlin mit öffentlichen Klosetts ausstattet, konnte ihn nicht befriedigen. Er gehört nun mal zu den Leuten, die erst im Blitzlichtgewitter ein Selbstwertgefühl erlangen. In Springers Welt am Sonntag hat er seine – vorgebliche – neue Innerlichkeit schon wieder vollständig nach außen gekehrt.
Der Vorwurf geht daher an Lunkewitz, der seine Entscheidung damit begründete, niemand stünde so wie Friedman für die benötigte öffentliche Streitkultur. Tatsächlich? Der Fernsehzuschauer kann sich an keinen niveauvollen Meinungsstreit erinnern, wohl aber an sein Dauergebrülle und das Niederkartätschen von Gegnern. Nicht die Widersprüche und Abgründe der Politik waren Friedmans Thema, sondern die Abweichung von der "political correctness". Mit somnambuler Sicherheit stellte er stets die falschen Fragen. Erfahrungen im Buchgewerbe hat er erst recht nicht.
Zur Erinnerung: Der Aufbau-Verlag war der Renommierverlag der DDR, vergleichbar mit Suhrkamp im Westen. Dort hatte die DDR so etwas wie ihr geistiges Zentrum, auch wenn man in Rechnung stellt, daß diese Zentrum sich zu einem großen Teil aus Illusionen und falsche Hoffnungen speiste. Für den geistig-moralischen Anspruch stand in den fünfziger Jahren der Verlagsleiter Walter Janka (1914-1994), ein Arbeitersohn, dem die Kultur- und Bildungsschätze nicht in die Wiege gelegt worden waren, sondern der sie sich mit bewunderungswürdigem Fleiß angeeignet hatte. Er war zu einer Kultur- und Literaturauffassung gelangt, in der sich der Bildungsanspruch der deutschen Arbeiterbewegung mit den besten bildungsbürgerlichen Traditionen verband. Bei Aufbau erschienen die Werke der deutschen Klassik, die DDR-Ausgaben von Thomas und Heinrich Mann, von Brecht, Hesse oder Hauptmann. Hier wurden die Bücher von Anna Seghers, Hans Mayer, Christa Wolf, Christoph Hein, Günter de Bruyn und der frühverstorbenen Brigitte Reimann verlegt. Man muß diese Namen – es gibt noch viel mehr – einfach aufzählen, um die Anmaßung von Friedman und Lunkewitz in Gänze zu erfassen. Natürlich gab es im Verlagsprogramm auch mancherlei Ausschuß und viele Lücken, die durch ideologischen und politischen Druck zustande kamen, aber im Prinzip wurde auf Qualität geachtet. Wer bei Aufbau veröffentlichen wollte, mußte was können. Der letzte große Erfolg waren die Klemperer-Tagebücher.
Was hat Friedman in diesem Haus zu suchen? In gewisser Weise wird er Nachfolger des hyperintelligenten Wunderkindes Wolfgang Harich (1923-1995), der bis zu seiner Verhaftung 1956 stellvertretender Cheflektor für philosophische Editionen war und in dieser Eigenschaft die Herausgabe von Herder, Heine, Feuerbach, Lukács und Bloch veranlaßt hatte. Beide, Harich und Janka, waren Kommunisten, aber entschiedene Ulbricht-Gegner, Harich überdies ein glühender Anhänger der deutschen Wiedervereinigung. Sie saßen vier bzw. acht Jahre im Zuchthaus, danach war Janka ein verbitterter Mann, Harich halbverrückt. Dies als Hinweis an diejenigen, die von einer "öffentlichen Hinrichtung" Friedmans und seinem Recht auf eine "zweite Chance" sprechen. Wie kann Friedman, dieses intellektuelle Leichtgewicht, sich unterstehen, in Harichs Fußstapfen zu treten? Sechs politische Bücher und zwei Interviewbände will er im Jahr herausgeben. Die einschlägigen Autoren und Beiträger kann man sich denken.
Lunkewitz hat mit seiner Entscheidung einen Propagandacoup gelandet, im übrigen aber die Seriosität des Hauses beschädigt. Im November steht der Prozeß gegen die Menschenhändlerbande an, durch die Friedman ins Visier der Fahnder geraten war. Zwar ist vor einem halben Jahr den Ermittlern ein Polizeicomputer mit brisantem Material aus einem Auto gestohlen worden, das auf einen bewachten Polizeigelände geparkt war (die Überwachungskamera war praktischerweise gerade abgeschaltet), aber was verschwunden ist, kann auch wieder auftauchen – und vielleicht kommen Tatsachen ans Licht, die über das Bekannte noch weit hinausgehen. Es war auffällig, mit welcher Vehemenz sich Lunkewitz für Friedman in die Bresche schlug. In einem Zeitungsartikel deutete er an, die festgestellten Kokain-Spuren könnten auf arabische Geheimdienste zurückgehen.
Die Verbindung zwischen beiden riecht nach einer üblen Seilschaft. Man kennt sich aus Frankfurter Tagen. Lunkewitz, ein schillernder Frankfurter Sponti, der durch Immobiliengeschäfte zum Multimillionär geworden ist, hatte den Verlag 1991 von der Treuhand gekauft, um, wie er seither oft beteuerte, ein Stück bewahrenswerter DDR-Kulturtradition vor der Zerschlagung zu schützen. In der Tat, ohne Lunkewitz gäbe es den Verlag wohl nicht mehr. Doch sein Entschluß war eben auch die Laune eines satten Spekulanten, der plötzlich Sehnsucht nach etwas Geistigem bekommen und genug Geld hatte, sich diesen Wunsch aus der Portokasse zu erfüllen. Jetzt verfährt er nach Gutdünken. Im einstigen Renommierverlag der DDR eine Figur aus der Frankfurter Halbwelt zum Chefkoordinator für das politische Buchprogramm zu installieren, bedeutet die schlimmste Demütigung der Ex-DDR-Bürger, die in der letzten Zeit überhaupt vorgekommen ist. Aus Protest sollten die Verlagsmitarbeiter rote Lämpchen ins Fenster stellen.