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Bastion der Aufmüpfigen

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Bisherige Kulturhauptstädte zeigten stolz ihr kulturelles Erbe und das ihres Landes. Doch damit haben die Organisatoren von Graz 2003 nichts am Hut. Präsentiert wird ein Programm internationaler Beliebigkeit. Der bekannteste linke Querdenker Österreichs, Günther Nenning, nennt Graz daher die „Unkulturhauptstadt“, „die Summe aller postmodernen Barbarei, Stümperei und Kinderei, dividiert durch das Schweinegeld, das dafür ausgegeben wird“. So soll wenigstens hier dem genius loci von Graz, der Hauptstadt der Steiermark, nachgespürt werden. Steiermark – schon der Name zeigt, daß das Land aus einer jener Marken entstand, die einst die Ostgrenze des Reiches sichern sollten. Die Gefahr waren im konkreten Fall die Ungarn, und noch heute läuft die ungarische Grenze gerade 60 Kilometer vor den Toren von Graz. Auch dieser Name deutet auf eine kriegerische Vergangenheit, leitet er sich doch von der Verkleinerungsform des slawischen Wortes für „Burg“ – gradec – ab. Die Herkunft des Namens ist kein Wunder, trafen hier die bajuwarischen Einwanderer doch im Unterschied zu den alpinen Gebieten schon auf eine zahlenmäßig recht starke slawische Bevölkerung. Im Mittelalter wird die Stadt daher oft auch „Bayrisch-Graetz“ genannt. Und noch heute sind die Hauptstädte Sloweniens und Kroatiens von Graz fast genauso schnell zu erreichen wie Wien. Die zu Ende des Ersten Weltkriegs noch gemischtsprachigen Gebiete hat die Steiermark freilich ohne jede Volksabstimmung an den südlichen Nachbarn verloren, die 70.000 Deutsch-Untersteirer wurden spätestens mit Ende des Zweiten Weltkriegs zu Flüchtlingen. Seine große Zeit hatte Graz zwischen der Mitte des 15. und dem Ende des 17. Jahrhunderts. Der 1440 zum deutschen König gewählte Friedrich III. stammte aus der „innerösterreichischen“ Linie der Habsburger, die ihren Sitz in Graz hatten. Unter ihm wird die Stadt zur Residenz, auch sein Sohn Maximilian hält zeitweise hier Hof, und Ferdinand II., der Kaiser des Dreißigjährigen Krieges, liegt sogar im prachtvollen Mausoleum neben dem Dom bestattet. Als Ferdinand 24 Jahre vor seiner Wahl zum Kaiser seinem Vater als Herzog von Innerösterreich nachfolgt, ist die Steiermark – und insbesondere Graz mit seinen Bürgern und Adeligen – in weiten Teilen protestantisch. Obwohl sich nach den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens die Untertanen nach dem Bekenntnis des Landesherrn zu richten hatten, werden katholische Gottesdienste laufend gestört, ja Priester auf offener Straße tätlich angegriffen. Ferdinand macht das Land rasch wieder katholisch – gewaltsam aber unblutig. Wer sich nicht beugen will, muß gehen. Etwa 50 Grazer Bürgersfamilien verlassen die Stadt – unter ihnen der seit Jahren hier lehrende Johannes Kepler. Die Zwangsbekehrten haben ihrem Landesherrn seine Maßnahmen aber offenbar nicht übelgenommen. Als der frisch gewählte Kaiser 1619 fast als Flüchtling in die Stadt kommt – Böhmen, Ungarn und Oberösterreicher befinden sich im Aufstand – bereitet ihm die Stadt einen großen Empfang und leistet einen erheblichen Beitrag zur Finanzierung des in Aufstellung begriffenen kaiserlichen Heeres. Der zweite Grund für die Bedeutung von Graz in diesen zweieinhalb Jahrhunderten lag in der Rolle, die die Steiermark als „Hofzaun des Reiches“ gegen die osmanische Bedrohung spielte. Nach 1526 bis zu den großen Siegen Prinz Eugens am Ende des 17. Jahrhunderts kam es laufend zu Einfällen türkischer Streifscharen aber auch antihabsburgischer Freischärler aus Ungarn, der sogenannten Kuruzzen. Noch heute flucht man in Graz „kruzitürken“ und noch heute steht in Graz mit dem „Zeughaus“ das größte frühneuzeitliche Waffenlager der Welt. Wer die mächtigen, dunklen Stockwerke des Hauses durchwandert, betritt kein Museum, sondern eine durch die Jahrhunderte original erhaltene Rüstkammer gewaltigen Ausmaßes. Spätestens mit dem 18. Jahrhundert kehrten aber in Graz Ruhe und Beschaulichkeit ein – symbolisiert durch den „Uhrturm“, dessen großer Zeiger die Stunden anzeigt, während der kleine den Minuten vorbehalten ist. Abseits vom politischen Geschehen wird die Stadt zur „Pensionopolis“ der Habsburger-Monarchie, deren betagte Offiziere und Beamte aufgrund der niedrigeren Lebenshaltungskosten Graz vor Wien den Vorzug geben. Die Grazer mögen über diesen Gang der Dinge nicht sonderlich glücklich gewesen sein, und noch heute werden in der zweitgrößten Stadt Österreichs die Vorbehalte gegen das übermächtige Wien liebevoll gepflegt. Architektonisch hat Graz aber von dieser Entwicklung nur profitiert: Neben barocken Fassaden finden sich im Stadtkern noch reichlich Gebäude aus der Zeit der Renaissance, ja sogar spätgotische Profanbauten. Trotz der alliierten Bomben, die in Graz fast die Hälfte des Häuserbestandes zerstörten oder beschädigten, verfügt die Stadt über eine der größten erhaltenen Altstädte Europas, deren Gäßchen manchmal so schmal sind, daß man mit ausgestreckten Händen die Gebäude zu beiden Seiten gleichzeitig berühren kann. Auch zahlreiche Innenhöfe bewahren das beeindruckende architektonische Erbe und vermitteln zugleich den fast mediterranen Charakter von Graz, der „südöstlichsten deutschen Großstadt“, wie man noch vor wenigen Jahren schreiben konnte, ohne der politischen Inkorrektheit geziehen zu werden. Die Innenhöfe nämlich sind durch offene Stiegenhäuser und Laubengänge gekennzeichnet, von denen Türen in die einzelnen Wohnungen führen. So entsteht schon ein südliches Flair, zu dem auch die nach außen öffnenden Fensterläden beitragen. Zum ruhigen Charakter der „Gartenstadt“ Graz haben auch die zahlreichen Grünanlagen beigetragen, so das nie verbaute, sondern in einen Stadtpark verwandelte Glacis vor den Mauern der Stadt – und nicht zuletzt der Schloßberg, an den sich die Altstadt schmiegt. Ursprünglich ein kahler Fels, beherrscht von einer nie bezwungenen Burganlage, verdanken die Grazer seine Begrünung indirekt Napoleon. Als auch dessen Truppen den Schloßberg nicht einnehmen konnten, verlangte er im Frieden von Schönbrunn (1809) den Abbruch der Festung. Nur die beiden Wahrzeichen der Stadt, Glockenturm und Uhrturm, konnten die Grazer freikaufen. Auf den nun funktionslos gewordenen Felsen ließ die Stadt jedoch tonnenweise Erde schleppen und so einen einmaligen Naherholungsraum schaffen. Trotz dieser beschaulichen Elemente war Graz aber nie ein Ort selbstzufriedener Ruhe. Um 1900 ist es ein Zentrum von Anthroposophie, Theosophie und Lebensreform. Andererseits radikalisierten sich die zahlreichen Studenten bedingt durch die Lage im gemischt-nationalen Kronland. Immer wieder kommt es zu Unruhen. Und auch die meisten Bürger rechnen sich dem „nationalen Lager“ zu. Auch in den dreißiger Jahren war die Stimmung in Graz eindeutig. Am 24. Februar 1938, 17 Tage vor dem Einmarsch der deutschen Truppen, erklärt sich Graz bereits zum Bestandteil des Deutschen Reiches, die öffentlichen Gebäude werden mit Hakenkreuz-Fahnen beflaggt, NS-Parteiorganisationen halten Tag für Tag Aufmärsche ab. Graz wird „Stadt der Volkserhebung“. Diesen Ruf der politischen „Aufmüpfigkeit“ haben die Grazer bis heute, was sich auch immer wieder in der Zusammensetzung des Gemeinderates spiegelt. So konnten bei den jüngsten Wahlen die Kommunisten und ihr pepponehafter Spitzenkandidat 21 Prozent erzielen. Früher war Graz dafür Bastion der Freiheitlichen, die schon lange vor Haider bei Wahlen bis zu 25 Prozent erreichen und den Bürgermeister stellen konnten. In den letzten Jahrzehnten hat die Stadt versucht, sich als eher progressiv zu positionieren. Doch die liberale Ausländerpolitik führte zum Ruf der „Drogenhauptstadt“ und kulturell ist die Progressivität mittlerweile erstarrt. Das Avantgarde-Festival „Steirischer Herbst“ geriet zunehmend zu billiger Effekthascherei und konnte zuletzt nicht einmal diesem Anspruch des Tabu-Bruchs mehr genügen. Auch das „Forum Stadtpark“, in den siebziger Jahren wichtiges Zentrum experimenteller Schriftsteller, ist eigentlich schon Geschichte. Und Versuche, das Opern- und das Schauspielhaus nach den Vorgaben des bundesdeutschen Feuilletons zu führen, scheiterten am Publikum. Das kulturell aufregendste ist daher seit längerem das Festival der alten Musik, die „Styriarte“ unter Nikolaus Harnoncourt. Trotz aller Kritik am Programm – „Graz 2003“ hat sich fein herausgeputzt. Teils umstrittene, teils einhellig akklamierte architektonische Neuerungen haben die Stadt ohne Frage interessanter gemacht. Auch wer die winkenden Hände von Schaufensterpuppen an den Lärmschutzwänden einer Autobahneinfahrt nicht unbedingt für Kunst hält, wird in Graz viel Sehenswertes finden. Und an den Hügeln am Stadtrand beginnen die ersten Weinreben zu wachsen. Einige Heurige – hier Buschenschänken genannt – findet man bereits im Stadtgebiet. 50 Autominuten weiter südlich beginnt die „steirische Toskana“ mit ihren sanft geschwungenen Hügeln, deren Rebensaft zum Verweilen einlädt. Graz und die Steiermark sind sicher eine Reise wert – es muß ja nicht gerade wegen „Kulturhauptstadt 2003“ sein. Foto: Grazer Rathaus, Erzherzog-Johann-Brunnen auf dem Hauptplatz: Die Landeshauptstadt der Steiermark war nie ein Ort selbstzufriedener Ruhe Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker ist Inhaber und Geschäftsführer des Leopold Stocker Verlages. Er lebt in Graz.

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