US-amerikanische „Neokonservative“ datieren die Geburtsstunde der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) auf den Abzug der amerikanischen Besatzungstruppen im Dezember 2011. Eine fortdauernde militärische Präsenz im Irak hätte den Frieden dort dauerhaft gesichert, so das Argument. Aus Sicht vieler Republikaner ist Präsident Obamas Versäumnis, ein neues Abkommen zur Stationierung amerikanischer Truppen (Status of Forces Agreement) auszuhandeln, die Ursünde, die alle anderen Übel nach sich zog. Der Peinlichkeitsfaktor des amtierenden Präsidenten ist mittlerweile so groß, daß seine Kritiker es wagen, einen nicht weniger untragbaren Politiker aus der Klamottenkiste zu holen und ihn der Bevölkerung als vorbildlichen Staatsmann anzupreisen.
In der Tat unterzeichnete dieser Mann, ein gewisser George W. Bush, einen Sicherheitspakt mit seinem Satrapen Nuri al-Maliki, zum großen Entsetzen vieler Iraker. Der irakische Journalist Muntazer al-Zaidi sprach seinerzeit stellvertretend für seine Landsleute, als er den US-Präsidenten mit Schuhen bewarf und ihm zurief: „Das ist ein Abschiedskuß, du Hund. Dies ist von den Witwen, Waisen und allen, die im Irak getötet worden sind.“
Saddam Hussein – der Diktator, der zugleich ein Friedensstifter war – hatte kein Status of Forces Agreement mit den USA abgeschlossen. Statt dessen setzte er Gewalt ein, um seine aufsässigen Untertanen erfolgreich unter Kontrolle zu halten. Islamistische Regungen wurden erbarmungslos im Keim erstickt. Als die islamistischen Revolutionäre unter Ajatollah Khomeini im Nachbarstaat Iran den Schah stürzten, ließ Saddam aus Furcht vor einem Übergreifen des religiösen Eifers auf sein eigenes Land schiitische Rebellen inhaftieren, hinrichten oder aus dem Land jagen. Von Rechtsstaatlichkeit konnte keine Rede sein, aber es war definitiv besser als der IS-Terror. Jeder irakische Durchschnittsbürger, der in den Trümmern seines Heimatlandes um sein Überleben kämpft, wird Ihnen sagen: „Wir wollen keinen Status of Forces Agreement. Wir wollen zurück zu den Zuständen unter Saddam Hussein.“
In allen Lebensbereichen schlechter
Es stimmt zwar, daß es den Kurden unter Saddam Hussein nicht gut ging. Schiitische Madaris wurden regelmäßig geschlossen. Es stimmt aber auch, daß erste Schritte in Richtung von Wiederaufbau und Demokratisierung unternommen wurden. Mit den arabischen Nachbarn (mit Ausnahme von Kuwait) hatte man einen Nichtangriffspakt abgeschlossen und einen Kooperationsrat zur Förderung der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung gegründet. Und vor allem war es gelungen, den Iran in die Flucht zu schlagen.
2012 ließ die Zeitschrift The American Conservative irakische Bürger zu den Auswirkungen der amerikanischen Invasion befragen. Fazit: „Unter den Schiiten wie unter den Sunniten nimmt eine Mehrheit die Situation in fast allen Lebensbereichen als schlechter oder unverändert war.“ Wohlbemerkt: Das war vor ISIS.
Kurz nach der Truppenverstärkung im Jahr 2007 hatte das Global Policy Forum die Iraker ebenfalls befragt. (Das war mehr, als Bush getan hatte, bevor er den Befehl erteilte, ihr Land zu bombardieren.) Die Amerikaner rangierten damals als Hauptschuldige an der Gewalt im Land neben al-Qaida und ausländischen Dschihad-Kriegern ganz oben. Schiiten und Sunniten schoben sich gegenseitig die Verantwortung für ihre jeweiligen Probleme zu.
Prophetische Analyse ausgerechnet von Dick Cheney
Dreimal dürfen Sie raten, von wem die folgenden weisen Worte aus dem Jahre 1994 stammen: „Wenn wir Bagdad eingenommen hätten, wären wir auf uns alleine gestellt gewesen. Wir hätten keinen einzigen Verbündeten an unserer Seite gehabt. Es wäre eine Besatzung des Irak durch die USA gewesen. Keine der irakischen Streitkräfte, die bereit waren, mit uns in Kuwait zu kämpfen, hätten sich an einer Invasion im Irak beteiligt. Und was sollte man nach dem Sturz von Saddam Husseins Regierung an ihre Stelle setzen? Diese Region ist ungeheuer explosiv. Sobald man die irakische Regierung gestürzt hat, kann es gut sein, daß das Land in Stücke zerspringt. Die Syrier würden sich gerne den westlichen Teil unter den Nagel reißen, die Iraner einen Teil des Ostens, um den beide Länder acht Jahre lang Krieg geführt haben. Im Norden sind die Kurden. Und wenn die Kurden sich mit den türkischen Kurden zusammenschließen, wird die territoriale Integrität der Türkei bedroht. Mit dem Versuch, die Macht im Irak zu ergreifen, würde man sich in einen Morast begeben.“
Diese scharfsinnige, wenngleich utilitaristische Analyse stammt von George W. Bushs späterem Vizepräsidenten Dick Cheney. Der Architekt der Invasion von 2003 hatte 1994 von einer solchen abgeraten. Seine damaligen Prophezeiungen haben sich mittlerweile erfüllt.
Das Status of Forces Agreement zwischen Bush und al-Maliki sah einen restlosen Abzug der US-Truppen vor. Trotz späterer Verhandlungen lehnten die Iraker jegliche weitere Beeinträchtigung ihrer Souveränität ab. Um es auf den Punkt zu bringen: Nicht etwa der Truppenabzug unter Obama, sondern die Invasion unter Bush schaffte die Bedingungen für den Aufstieg von IS.