Im Zwei-Jahres-Rhythmus scheiden sich die patriotischen Geister an der Frage, wie man das Phänomen des Fußballpatriotismus während der WM- und EM-Turniere bewerten sollte. Während manche auf eine Initialzündung für eine selbstbewußte Nation hoffen, klagen andere über die Fußballturniere als „Brot und Spiele“. Ich vertrete in dieser Frage eine Zwischenposition: Weder den positiven, noch den negativen Effekt des WM-Patriotismus sollte man verkennen.
Unter dem Strich ist dieser Flaggenkult jedoch ein guter Anfang. Soziologische Untersuchungen bestätigen, daß das Flaggenschwenken bei einem erheblichen Teil der WM-Begeisterten keineswegs nur als fußballerisches, sondern sehr wohl auch als patriotisches Bekenntnis gemeint ist. Es hat seinen Grund, warum es wegen den vorherrschenden Linken jahrelang als anstößig galt, Schwarz-Rot-Gold-Flaggen zu zeigen.
Ich erinnere mich noch gut an die WM 2002, als diese Flaggen noch nicht in Mode waren – ganz im Gegenteil: Ich war damals der einzige in meiner Schulklasse, der es wagte, mit einem DIN-A4-großen Schwarz-Rot-Gold-Fähnchen in die Schule zu gehen. Ich wollte ein Zeichen gegen die alltägliche rassistische Deutschenfeindlichkeit von linken Deutschen setzen. Wenn ich in den Pausen von einem Klassenraum zum anderen lief, ließ ich die Flagge aus meiner Schulmappe herausragen. Dabei mußte ich mir die abfälligen Kommentare von Vorbeilaufenden anhören, die mir ungefragt mitteilten, daß sie sich keineswegs einen Sieg der deutschen Mannschaft wünschten. „Da kannst du noch so oft deine Fahne mitbringen“, hieß es.
Wegen Fahne: Ärger mit der Obrigkeit
Es galt bei einigen Schülern tatsächlich als chic, den WM-Titel demonstrativ einer anderen Nationalmannschaft, vorzugsweise den brasilianischen Schnöseln, zu wünschen. Ein Klassenkamerad setzte in einem Wettbüro sogar fünf Euro auf einen 1:0-Sieg Südkoreas gegen Deutschland im Halbfinale. Zu allem Überfluß bekam er dann auch noch den Gewinn ausgezahlt, weil er sich versehentlich auf dem Wettzettel verschrieb und Deutschland 1:0 gewann.
Nachdem Deutschland immerhin Vizeweltmeister wurde, zeigte ich begeistert einem Mitschüler ein Foto von der WM-Abschlußfeier vor dem Frankfurter Römer, die dann immerhin schon in einem Flaggenmeer stattfand. Der Mitschüler lachte über das Foto und fragte mich ungläubig: „Aber das ist doch eine Fotomontage, oder? Die sind doch nicht wirklich so aufmarschiert, oder?“ Das Wort „aufmarschiert“ zeigt hier natürlich sehr deutlich, daß er ein Fahnenmeer unterbewußt offenbar als „irgendwie nazimäßig“ empfand. Und genau in diesem Punkt bedeutet die neue Flaggenmode einen Trend in die richtige Richtung. Denn nun bleibt im Gedächtnis immerhin hängen, daß ein Fahnenmeer eben nichts Anrüchiges ist, sondern eine Normalität darstellt.
Kurz vor dem Finale bekam ich wegen meiner Flagge dann auch noch Ärger mit der Obrigkeit. „Gibt es irgendeinen bestimmten Grund?“ fragte mich mit bitterbösem Tonfall und vor versammelter Klasse eine verbiesterte Lehrerin, die aus rund zehn Metern Entfernung meine Flagge erspähte. Es müsse nicht sein, so die linke (Ober-)Lehrerin weiter, daß sie jeden Morgen im Klassenraum „hier so ein Banner sehen muß“. Verständlicherweise wagte es kein Schüler, mich zu verteidigen. Ich mußte das Corpus Delicti wieder von meiner Mappe entfernen.
Lärmende Fußballverrückte nach Gerstensaftgenuß
Verdammt – 1848 waren wir schon mal weiter. Und die Lehrerin fügte noch in gehässigem Tonfall hinzu: „Außerdem braucht ihr gar nicht so euphorisch zu sein: Die verlieren sowieso!“ Seither beobachte ich den Siegeszug des Fußballpatriotismus trotz allem mit großer Genugtuung: Denn daran sieht man ja wohl, wer hier in Deutschland die Avantgarde ist!
Indessen bestand eine Ironie der Geschichte darin, daß meine Mutter einmal zu DDR-Zeiten einen Stoffbeutel besaß, der mit Siebdruck mit einer USA-Flagge bedruckt war. Meine Mutter wurde vom Lehrer nach Hause geschickt und mußte sich in einem Eltern-Lehrer-Gespräch anhören, daß sie „provozieren“ würde. In der Bundesrepublik waren es dann andere Flaggen, mit denen man zum subversiven Element werden konnte.
Szenenwechsel: Zehn Jahre später findet die Fußball-Europameisterschaft 2012 statt. Ich sitze auf einer Parkbank in der Nähe des S-Bahnhofs Friedrichstraße in Berlin und lese friedlich das Buch „Der Niedergang“ des Soziologen Jost Bauch. Erfreut erblicke ich in der Ferne eine junge Frau mit schwarz-rot-goldenem Kopftuch, und es erscheint mir in diesem Moment vollkommen einleuchtend, daß Patriotismus das beste Mittel für gelingende Integration und für ein friedliches Zusammenleben der Kulturen ist. Kurz darauf kommt eine Horde angetrunkener, „urdeutscher“ Fußballverrückter im Alter von vielleicht 14 Jahren angeschwirrt, lärmt herum und wirft einen Böller durch die Gegend, der einen Viertelmeter vor meinen Füßen explodiert. An eine Fortsetzung der Lektüre war nicht zu denken, ich mußte – schon wieder – die Flucht ergreifen.
Ist das der Dank des Vaterlandes?
Am darauffolgenden Tag beschloß der Bundestag im fußballerischen Windschatten den ESM-Vertrag. Und ich dachte mir im Hinblick auf die Proleten: Es ist genau dieser Menschentypus, der daran schuld ist, daß man die Flagge so lange nicht zeigen durfte. Und nicht zuletzt: Ist das der Dank des Vaterlandes? So hatte ich mir die Sache 2002 natürlich nicht vorgestellt. Trotzdem war es richtig.
Um also noch einmal auf die Vereinnahmung durch die Proleten zurückzukommen: Es mag sein, daß Teile derer, die sich 2002 so vaterlandslos zeigten, nunmehr ihr Fähnchen buchstäblich nach dem Wind richten und womöglich in einer gigantischen Gemeinschaft der Bierwampen lautstark „Schland“ grölen. Aber sei’s drum – das Endergebnis zählt! Und was die Bierwampen betrifft, so tröstet diesbezüglich die zeitlos gültige Weisheit des reaktionären Großmeisters Michael Klonovsky: „Beifall von der falschen Seite? Jede Seite ist die Falsche.“
Immerhin hat das Erlebnis mit der Lehrerin sicherlich dazu beigetragen, daß ich begann, mir Fragen über Zustände zu stellen. Falls der WM-Patriotismus auch nur bei einzelnen zu einer ähnlichen Entwicklung beitragen sollte, dann ist das wahrscheinlich schon als Erfolg zu werten.