1945. Jahrhundertjahr. Die Rote Armee kam am 2. Mai, nachmittags erst, um Viertel nach drei. Einen Tag vorher hatte man sich noch nicht vorstellen können, daß es überhaupt je geschehen würde, obwohl seit Wochen tuschelnd von nichts anderem als „vom Russen“ die Rede war, aber dann war er plötzlich da; und genau so, wie er früher nicht herzudenken war, war er dann nicht mehr wegzudenken. Nie mehr.
Am ersten Mai waren die letzten Wehrmachtsabteilungen in Richtung Grabow und Ludwigslust geflohen, denn dort, war zu hören, stand schon der Engländer. Weit war’s gekommen, verdammt weit. Am zweiten Mai mußte man spätestens mit den Russen rechnen und traf also Vorkehrungen. Mein Vater Hans, ein schmaler blonder Junge, der ziemlich genau so aussah, wie sich die Nationalsozialisten einen deutschen Zehnjährigen wünschten, saß mit zwölf Leuten, die plötzlich verstummt schienen, in einem Bunker, wie man nur so sagte, denn vielmehr war’s eine eilig im Hof ausgehobene Grube, deren Boden man mit Koffern voll Hausrat ausgelegt hatte, auf denen schließlich alle eingezwängt und verkrümmt kauerten, verzagte Menschlein mit ihren über Generationen weitergegebenen Habseligkeiten, leise atmend, aber mit furchtsamem Herzschlag und kaltfeuchten ineinandergekrallten Handflächen eine werdende Großmacht erwartend, die ihnen allen wahrscheinlich den Garaus machen würde.
So nahmen sie es vorbeugend an. Arme Verlierer in einem kümmerlichen Rattennest. Den Tod auf ihrem bißchen brüchigen Besitz erwartend. Wo sonst? Nach oben war das Loch nur mit dünnem Wellblech abgedeckt. Draußen hörte man den Frühlingsruf der Meisen und das hohe Zirpen der vorbeifliegenden ersten Schwalben in diesem Jahr. So übersichtlich und einfach sah das Ende aus, das Ende des Reiches also und vielleicht gleich überhaupt das Ende von allem. Hans hörte, wie jemand ein Gebet murmelte, was im protestantischen Glövzin bisher selten zu hören war, am hellichten Tag schon gar nicht. Aber sie alle saßen jetzt im Dunkeln, in einem finsteren Loch. Deswegen ging dem Jungen immer wieder ein Kinderlied durch den Kopf:
Häschen in der Grube,
saß und schlief,
saß und schlief.
Armes Häschen, bist du krank,
daß du nicht mehr hüpfen kannst?
Häschen, hüpf!
Der Russe kam in einer Wolke dampfender Pferdeleiber
Von Häschen bis Hänschen war es nicht so weit. Heute schon gar nicht. Früher hatten sie ihn oft mit dem Liedchen aufgezogen, jetzt stimmte es beinahe. Krank in der Grube, vor Angst.
Die alte Frau Ortmann hatte im Loch leider keinen Platz mehr gefunden und wanderte deswegen verloren auf Hof und Straße herum. Um ihre persönliche Kapitulation anzuzeigen, schwenkte sie mit etwas steifen und ungeübten Bewegungen ab und an ein weißes Bettlaken, in das sie sich schließlich, wie in einen Umhang, eine Art Toga, hüllte, weil ihr die Arme lahm wurden und es sie beim Warten auf die Russen doch von innen zu frösteln begann, als zöge mit ihnen ein kalter Ostwind heran. Außer der alten Dame war draußen niemand unterwegs. Sie schien allein. Das Dorf schwieg. Nur die Standuhren und Regulatoren in den Häusern tickten, wenn sie nicht in den Scheunen unterm Stroh versteckt waren. Die Sieger aus dem Osten müßten gleich eintreffen und die fürchterliche Stille beenden.
Sie kamen dann aus südöstlicher Richtung, genau von dort, woher man sie erwartet hatte, also aus Schönfeld und Premslin. Aber sie kamen weder mit Panzern noch auf Lastwagen oder was man sich sonst so als Militärfahrzeuge vorstellte, sondern sie tauchten urplötzlich in einer riesigen Herde von Pferden auf, die sie schon auf den anderen märkischen Dörfern und einfach vom Weideland herunter zusammengetrieben hatten. Eine Wolke von dampfenden, stampfenden Pferdeleibern, ein Steppenereignis, das diese fremden Menschen mit ihren olivgrünen Uniformen heranwehte. Das kleine Dorf an der Fernverkehrsstraße 5 wimmelte plötzlich von Pferden, die wie herrenlos herumliefen, aber den wenigen Leittieren folgten, die beritten waren. So stellte man sich eine Kosakenaktion am Don oder Dnepr vor, weniger einen Krieg.
Ende und Hölle zugleich erwartet, eine Armee mindestens
Und sofort begannen die Soldaten, so wie schon überall, die Glövziner Pferde zusammenzutreiben und sie aus den Ställen und Koppeln heraus ihrer Riesenherde zuzugesellen. Als sie gleich am Ortseingang auf den schmalen Hof des Kleinbauern S. vordrangen, um dessen zwei Stuten wie selbstverständlich mitzunehmen, verstand der alte Mann nicht, wollte sich zwar nicht eigentlich wehren, griff aber wohl wie aus Reflex nach der Forke oder nur nach Harke oder Besen und wurde daraufhin sofort erschossen. Nur ein Schuß, ein trockener harter Knall, und er lag mitten auf der gepflasterten Stallzufahrt, die Wangen vom Morgen dieses Tages her noch gründlich rasiert, bleich und erkaltend in seinem warmen, sich zwischen den Pflastersteinen sogleich schwarz färbenden Blut, den Blick leer in den Prignitzer Himmel seiner Kindheit gerichtet. Die Mütze war ihm vom Kopf gefallen. Niemand hatte den alten S. außerhalb seines Hauses je ohne diese Mütze gesehen.
Die Glövziner hatten, furchtsam bis verzweifelt, eine Armee erwartet; sie waren auf horrende Untermenschen mit Bajonetten zwischen den Zähnen eingestellt, die den deutschen Frauen die Brüste abschneiden und deren Kinder in die Jauchegruben werfen würden; sie hatten das Ende und die Hölle gleichzeitig erwartet, mindestens aber etwas Artillerie und wenigstens ein paar Panzer, aber statt dessen wurden sie von einer liederlich wirkenden eurasischen Völkerwanderung wie in einem sie plötzlich einschließenden Strom umflossen, der aus anderer Zeiten tiefer Räume zu kommen schien, die Flut fremder Völkerschaften, eine wild andriftende Horde, die über Tausende Kilometer allein dem Grinsen des Todes in die leer klaffenden Augenhöhlen gesehen hatte und die nun längst in diesem ihnen so fernen Deutschland angekommen, von dem der große Krieg also ausgegangen war, der sie alle getroffen und entwurzelt hatte.
Pferde über Pferde, ein paar flache Panjewagen, zunächst gar keine Panzer, nicht mal Lastkraftwagen. So viele sie zu sein schienen, so viele hatten sie auf ihrem Weg von Taganrog am Asowschen Meer, wo ihre Division aufgestellt worden war, bis hierher schon verloren, in ein Land vordringend, das ihnen so sauber und ordentlich aussah, als hätte es gar keinen Krieg geführt, schon gar nicht den größten aller Zeiten.
Nichts tickte mehr, man war angekommen im ersten Jahr danach
Und wo der grausige Kampf endete, da begann der schlimme Siegesschmaus. Die Soldaten, vielfach gute Bauernsöhne, versorgten als erstes ihr Vieh, und sie nahmen dazu, was die Scheunen und Speicher der Bauern hergaben. Die großen Wäscheschubladen wurden aus den Kommoden gezogen, ausgekippt, in die Höfe gestellt und mit Hafer gefüllt, damit Hunderte Pferde sich sattfressen konnten. Dann stärkte sich das vom Krieg ausgemergelte Volk selbst und hielt mit requirierten Schweinen und Rindern Schlachtefest, als wäre der Krieg genau hier und heute zu Ende.
Nach den Kohl- und Kaschamahlzeiten der Feldküchen floß der Wodka, die Zieharmonikas begannen zu spielen, und unter ihren Klängen wurden die Frauen gejagt, die sich aus den Verstecken gewagt hatten, um, gestern noch Herrinnen über Scheuer und Faß, sich mit verschränkten Armen vor ihren Besitz zu stellen. Am Abend des Sieges über Glövzin waren viele von ihnen geschändet und die Männer und Wohnzimmer ohne Uhren. Nichts tickte mehr, das Warten hatte ein Ende. Man war angekommen im ersten Jahr danach. Obwohl niemand wußte, wohin sie einen tragen würde, verging sie wieder, die Zeit, denn die Zeit selbst brauchte gar keine Uhren.
In seinem Garten, an einem alten Apfelbaum unter früh weißblühenden Zweigen, baumelte sanft der Ortsbauernführer wie eine überreife Frucht. Im Gras lag sein Hut. Frieden hielt Einzug, und die alte Frau Ortmann ging, eine Blechschale Kapusta in ihren Händen und noch immer in ihr weißes Laken gehüllt, wie ein stilles Gespenst zwischen den fremden Soldaten herum, die ihr sogar ein Feldkäppi aufgesetzt hatten. Ebenso wie am Morgen interessierte sich auch jetzt niemand für sie.