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Vater I

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Ich konnte mit ihm erst etwas anfangen, als ich etwa vierzehn war und wir aus irgendeinem Grund begannen, miteinander Radtouren zu unternehmen und uns unweigerlich unterhalten mußten, während die Landschaft vorbeizog. Er redete nicht viel. Typisch für manche Lehrer, die am Vormittag ein paar tausend Worte in der Schule gelassen und danach nicht mehr viel davon übrig hatten.

Einer wie er sollte damals gar nicht Lehrer werden. Als brandenburgisches Landarbeiterkind hätte er auf dem Dorf bleiben und bei den Großbauern arbeiten müssen. Wäre alles so geblieben, wie es war. Es wurde aber alles anders:

Den 1945 Zehjährigen wollte seine Mutter gerade noch für die Hitlerjugend anmelden, weil die redliche Frau pflichtgemäß dachte, das müsse eben so sein, pünktlich und genau in der vorgeschriebenen Frist, preußisch ordentlich also, denn Glövzin war brandenburgische Prignitz, ein alter Herrschaftskreis, in dem man sich stets nach der Obrigkeit richtete, weil es so das Einfachste war und der Liederlichkeit vorbeugte. Einerlei, wer die Obrigkeit nun genau war. Lieber erst mal die vermeintliche Pflicht: Gerade wenn man in bescheidensten, wenn nicht gar ärmlichen Verhältnissen lebte, sich von einer Kuh, einer schmalen Handtuchfläche Land und ein paar sicheren Deputaten ernährte und ansonsten für ein paar lose Münzen bei den Großbauern putzen ging.

„Nicht mal mehr das Reich“

Aber da hatte Lehrer Kakerbeck der verblüfften Mutter leise kopfschüttelnd zugeraunt: Gute Frau, das lassen wir in diesem Jahr lieber mal. Die HJ wird es, so scheint’s wohl, nicht mehr lange machen. – Ach so? – Der Lehrer dann leiser: Es wird nicht mal das Reich mehr lange geben, gute Frau, nicht mal das Reich! – Nicht mal das Reich? Ja, aber was denn dann? – Nun, vielleicht noch Deutsche, vielleicht noch unsere Sprache, hier und da oder schlimmstenfalls nicht mal die, wenn sie uns dann deportieren, damit wir im Osten alles abarbeiten. Mehr aber nicht. Schlachten sie mal lieber noch was, gute Frau, aber verstecken sie es gut, denn sie werden es brauchen können, sie und ihre beiden Jungen, jetzt mehr denn je. Die HJ vergessen Sie mal schnell.

Mein Vater war an der Fernverkehrsstraße 5 aufgewachsen, der legendären Berlin-Hamburger. Er hatte erlebt, wie die amerikanischen Tiefflieger die langsame, nicht abreißende Prozession gen Westen ziehender Flüchtlingstrecks wie in einem furchtbaren Spiel beschossen. Die Leute hörten die tückisch flinken und wendigen Mustang-Tiefflieger meist rechtzeitig, sprangen in die Straßengräben und Büsche, noch besser hinter eine der Chausseelinden, preßten sich an den Boden, warfen die Arme über den Kopf, schlossen schicksalsergeben die Augen und warteten, den Duft der Erde einziehend, das himmlische Feuer der Bord-MGs ab, dessen Garben in das Pflaster schlugen und den Sand aufspritzen ließ.

Mit der unheimlichen Stille danach wagten sie sich wieder zaghaft hervor und zählten den Treck durch. Die Alten meinten, die Amis täten das jetzt zum Spaß, so als Pilotensport, wenn sie, die schon Dresden, Magdeburg, Berlin bombardiert hatten, nun hier, wo die Leute mit Fuhrwerken ihr bißchen Leben und kümmerlichen Hausrat dem Westen entgegenzerrten, noch immer auf alles schossen, was sich bewegte, was sich der Elbe, also doch den Westalliierten selbst entgegenwand, um vor der Roten Armee, vor den „Bolschewisten“, gerettet zu sein.

Lieber nicht darüber nachdenken

Die kamen von dort, wo der Vater meines Vaters als Gefreiter der Wehrmacht an den Seelower Höhen unterm Trommelfeuer der Katjuscha-Raketenwerfer, der Stalinorgeln, gelegen hatte, vielleicht das grelle Licht der Scheinwerfer im Blick, mit denen Schukows Sturm über die Oder und damit der Vormarsch auf Berlin begann. Glücklicherweise bekam dieser Großvater nach drei Tagen zähen Rückzugs hinter dem Oderdorf Dolgelin einen Steckschuß ab. Einen Steckschuß als Geschenk aus einer sowjetischen MPi. Nicht gerade der Heimatschuß, den man sich wünscht, aber einer, der ausreichte, um nicht mehr als frontverwendungsfähig zu gelten.

Das brachte ihm einen Platz im Lazarettzug ein, nur zu verdient für einen, der seit 1939 schon einige Fronten überlebt hatte, lange nicht mehr der jüngste und außerdem von Kindheit an schwerhörig war, so daß er im Osten sogar schon mal hinter die russischen Linien geriet und sich durch den verschneiten Wald voller Angst zurückschleichen mußte, nur um bei den eigenen Leuten zunächst des argwöhnischen Verdachts stiller Fahnenflucht ausgesetzt zu sein.

Jetzt also endlich Schwein gehabt. Für Tage stand der Lazarettzug in Meyenburg, nur gut zwanzig Kilometer von Glövzin entfernt, aber das wußte zu Hause ja niemand. Keiner ahnte, wo sich der Vater gerade befand, ob nun an den Seelower Höhen oder schon in einem östlichen Vorort Berlins, wo die Hölle los war, oder dort irgendwo längst schon gefallen. Lieber nicht darüber nachdenken. Andere Vorsorge war jetzt wichtiger. Die Soldaten halfen sich schon selbst, sie hatten ja wohl noch ein Gewehr. In den ersten Monaten des Jahres 1945 fand ein Gefreiter an der berstenden Front bestimmt keine Zeit zum Schreiben von Feldpostbriefen. Was für ein Wunder, daß überhaupt noch welche ankamen. Wenn man schrieb. Wenn gar nichts mehr in diesem Deutschland funktionierte – die Post kam so wie eh und je mit dem alten, kriegsuntauglichen Postboten Hewelt ins Haus.

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