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November

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Leise Depression der Nachsaison. Nirgendwo so eindringlich wie im Gebiet der Mecklenburgischen Seenplatte. Wo der bunte Trubel rumorte, ruht jetzt der See. Wo geräuschvoll Betrieb herrschte – Bade-, Tanz-, Spaß-, Animations- und Barbetrieb, wo die „Events“ herausgeschrien und bunt plakatiert wurden –, da waltet erst die goldige Stille, dann folgen die Stürme von West. Nicht mal mehr Wespen oder Fruchtfliegen unterwegs auf ihrer Suche nach letzter Süße in den wegschrumpelten Pflaumen oder nach leichten Alkoholräuschen aus all den Mini-Vergärungen des Obstes. Ab und an eine Schutz suchende Hornissenkönigin, um sich zu bergen, für das nächste Jahr und das aus ihr zu gebärende nächste Volk.

Man laufe über die großen Zeltplätze und Wohnwagensiedlungen. Sie stehen verlassen, eingezurrt und gesichert, sind dennoch an Planen und Seilen von der Ausdauer des Windes gezaust, als böten sie im Grau, das nur die Grade zweier Farben kennt, die keine sind, Schwarz und Weiß, als böten sie also die Kulisse zu einem amerikanischen Thriller oder zu melancholisch-realistischen Gemälden, die es aber leider nicht mehr gibt.

Wenn die Singvögel zu großen Teilen fortzogen, rufen auf der Durchreise ins Warme die Kraniche. Ihr lateinischer Name „Grus grus“ ist lautmalerisch, eine Onomatopoesie. Der Schrei der Häher kratscht durch die Wälder, und überhaupt haben dann die klugen Raben, die cleveren Elstern und die Trupps gewitzter Dohlen das Gelände für sich, vermehrt um ihre aus kalter Gegend, aus Ost und Nord, zureisenden Artgenossen.

Die große, in Ruhe gelassene Natur spricht wieder mit sich selbst

Hat man das Zeug dazu, noch mal schwimmen zu gehen, bemerkt man, daß selbst das Wasser sich entscheidend verwandelt. Vorteil zunächst: Man hat die Strände für sich allein und die Seen sind wieder blicktief. Schwimmend denkt man an den Physikunterricht, an die Anomalität, daß Wasser bei vier Grad seine größte Dichte hat. Selbst die von Eis ist geringer. Die neue Klarheit klärt nicht nur den Kopf und läßt einen schon nach ein paar kräftigen Schwimmstößen ans Überleben denken, nein, man spürt, selbst das Wasser ist kein laues Planschbecken mehr, sondern gehört wieder jenen, deren natürlicher Lebensraum es ist. Kalte Hechte …

Die große, in Ruhe gelassene Natur spricht wieder mit sich selbst. Sie bedarf des Touristen, dieses Genießers und Voyeurs, nun mal nicht. Selbst die vor ein paar Wochen noch röhrenden Hirsche fallen ins Schweigen. Und sogar das Laub führt jetzt sein eigenes Leben und weht wirbelnd Richtung Vergängnis davon. Bunter Totentanz. Nicht lange vor Totensonntag. Freuen sich alle über die Blätter, auch noch über deren Goldlicht im Herbst, so ist totes Laub offenbar ein Feind für all die Siedler, die es mit Gebläsetechnik zusammentreiben und dann alles sauber „recyceln“, so daß kaum mehr den Igeln eine Schlafstatt davon bleibt. – Großer Wunsch nach Sterilität vorm Winter.

Weshalb nur gehört der November nicht zu den gängigen Lieblingsmonaten? Weshalb nur das Aufblühen, wenn jede Pflanze ihre Geschlechtsteile herzeigt, weshalb nur die Hitze, auf die alle Welt lauert und die der Wetterbericht sommers wie eine Erlösung ankündigt? Mag alles etwas für sich haben, ist aber – im Gegensatz zum November – wie das willensverlorene Rennen der ganzen Welt. Das Reizwort der Leistungsgesellschaft – Wachstum! –, es paßt am wenigsten in diese Jahreszeit. Deshalb haben die Camper ihre Plätze und ihre eigene kleine Welt, die sie mit Hecken und Buchsbaum abzirkelten, verlassen und emigrieren – in den Süden, der Sonne hinterher, in die Lautstärke, zu den vielen Farben.

Wer bleibt, schlägt den Kragen hoch und ist – bei sich.

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