Neulich war hier von der Dummheit der Regierenden die Rede. Das ist auf geteiltes Echo gestoßen, und dies verweist auf ein grundsätzliches Problem, das bei Betrachtungen zu Politik oder gar Geschichtsschreibung immer wieder auftritt. Nennen wir es das Problem der unvermeidlichen Nebenwirkungen. Alles, was man tut, nützt bekanntlich irgend jemand anderem. Alles, was man läßt, nützt bekanntlich aber ebenfalls jemand anderem. Jede denkbare Entscheidung, den Tag zu beginnen, zu etwas Stellung zu nehmen oder zu schweigen, etwas zu konsumieren oder eben nicht, ist für andere unvermeidlich ein Gewinn. Es profitieren dabei viele, die man kennt oder sogar bewußt fördern wollte. Es profitieren viele andere, die man vielleicht gar nicht kennt oder deren Profit man nur widerwillig in Kauf nimmt.
In der Sphäre der Politikanalyse führt dieser Umstand zu einem Problem, so bald die Gründe für eine Entscheidung zu bewerten sind. „Cui bono?“, wem hat’s genützt, ist natürlich eine naheliegende Frage, die zur richtigen Antwort führen kann und häufig gestellt wird. Sie unterstellt allerdings einen beachtlichen Standard an Rationalität und Informiertheit, sowie ein hohes Maß an Präzision bei der Ausführung bestimmter Maßnahmen. Auch und gerade politische Entscheidungen haben jedoch manchmal sehr vielfältige Wirkungen und Nebenwirkungen. Nicht jeder, dem es genützt hat, war auch der ursprüngliche Adressat einer Maßnahme. Das gilt selbst dann, wenn die entscheidenden Personen sich Mühe gemacht haben, die Folgen ihrer Entscheidung zu bedenken.
Entscheidungen zu oft aus dem hohlen Bauch heraus
Es hieße jedoch, den Entscheidungsprozessen der Weltpolitik eine zu große Rationalität zuzubilligen, wollte man sie für vollkommen durchdacht und wohlinformiert oder gar für sinnvoll um drei Ecken kombiniert erachten. So etwas wird versucht, kein Zweifel. Aber es gibt auch keinen Zweifel daran, daß nur allzuoft aus dem hohlen Bauch oder dem mit Halbwissen gefüllten Kopf heraus die weitreichendsten Entscheidungen getroffen worden sind. Manchmal wurden auch lange angebahnte oder absehbare Situationen unglücklich – dümmlich abgewickelt. Das war beleibe keine Exklusiveigenschaft des neulich erwähnten amerikanischen Präsidenten.
Seit 1906 konnte man in Berlin wissen, daß Großbritannien einen deutschen Einmarsch in Belgien als Kriegsvorwand nehmen würde, schon weil man herausgefunden hatte, daß die neu aufgestellte britische Armee für genau diesen Einsatzzweck eingerichtet wurde. An den Militärplänen änderte man trotzdem nichts, was vielleicht sachlich gerechtfertigt war, aber ebenso unzweifelhaft einen spektakulären Völkerrechtsbruch darstellte, den man vielleicht doch besser den Gegnern überlassen hätte.
Aber selbst der deutsche Reichskanzler, der eigentlich seit Jahren damit rechnen mußte, der Weltöffentlichkeit gegenüber eines Tages den deutschen Einmarsch in Belgien rechtfertigen zu müssen, weigerte sich, überhaupt an den britischen Kriegseintritt zu glauben. Und auch rhetorisch wurde nichts vorbereitet, so daß er dann am Tag der Tage vor dem Reichstag und der Weltöffentlichkeit den gerade gebrochenen Vertrag über die belgische Neutralität mit den legendären Worten abfertigte, er sei „ein Fetzen Papier“. Auch das war – mit Verlaub – dumm. Und genützt hat es vielen, denen es nicht nützen sollte.