1925 schrieb der Philosoph Theodor Lessing über den späteren Reichspräsidenten Hindenburg, „daß hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht.“ Heute ist alles noch dürftiger geworden: Hinter dem Zero lauert kein böser Nero oder Hitler, auch wenn in den letzten Wochen so getan wurde, als stünde die Machtergreifung von Beate Zschäpe und den toten NSU-Mitgliedern unmittelbar bevor – ein Zero bleibt ein Zero und könnte auch nur durch andere Zeros ersetzt werden, weshalb den Deutschen ziemlich egal ist, ob Christian Wulff als Bundespräsident zurücktritt oder nicht.
Nur eine Minderheit von 43 Prozent spricht ihm noch zu, „den richtigen moralischen Kompaß“ zu haben, aber 70 Prozent meinen, er solle trotzdem im Amt bleiben – so Spiegel-Kolumnist Jakob Augstein im Dezember 2011. Leider belegt er diese Zahlen nicht näher. Nach den Enthüllungen über Wulffs Drohungen gegenüber Journalisten und seinen larmoyanten Entschuldigungsphrasen dürften sie sich verschlechtert haben, vermutlich sind sie aber noch immer erstaunlich hoch. Augstein sieht in dieser moralischen Gleichgültigkeit eine erschreckende Erosion der Demokratie – und er hat einerseits Recht. Andererseits: Wer hätte von jemandem, der erst als Ministerpräsident und sodann als Präsidentschaftskandidat nur dritte Wahl war, etwas anderes erwartet als politisch-korrektes Phraseneinerlei, wie er es in seiner Weihnachtsansprache vor devot lauschendem Multikulti- Publikum zum Besten gab, oder eine provinzielle Kungelaffäre um den Amigo-Kredit für sein spießiges Klinkerhäuschen in Burgwedel?
Stil- und würdelose Mailbox-Attacken
Nun wurde daraus eine Affäre um die Pressefreiheit, aber man fragt sich, was schlimmer ist: Wulffs arrogantes Drohgehabe gegenüber Boulevard-Journalisten oder seine peinlichen Versuche, sich für die stil- und würdelosen Mailbox-Attacken zu entschuldigen? Die Meinungsfreiheit in den Medien ist durch Monopolisierung, Parteien-Infiltration und Political Correctness mehr gefährdet als durch Wulffs Belästigung von Springer-Journalisten. Wenn sich nun Kai Diekmann und der Bundespräsident gleichermaßen als Opfer gerieren, zeigt der Fall doch, wer den Kürzeren gezogen hat. Die politische Kultur hat größeren Schaden genommen als die ohnehin stets in Frage stehende Pressefreiheit.
Paul von Hindenburg gab wenigstens einen passablen Ersatzkaiser ab, nachdem Wilhelm II. ziemlich unkaiserlich verschwunden war, aber Christian Wulff taugt nicht einmal zu einem Ersatzpräsidenten. Wozu taugt einer wie er überhaupt? Eine Lebensversicherung würde man sich vielleicht von Horst Köhler aufschwatzen lassen, an „Bruder Johannes“ ging immerhin ein – wiewohl etwas seifiger – Pastor verloren, und Richard von Weizsäcker hätte als Inhaber eines Herrenausstatters eine elegante Figur gemacht, aber was hätte aus Wulff außer Politiker sonst werden können? Ihn als „Beamtentyp“ zu bezeichnen, verbietet sich angesichts des Berufsethos eines preußischen Beamten alter Schule. Eigentlich hätte er alles Mögliche werden können und überall unauffällig seinen Job gemacht – in jedem politischen System. Hinter einem Zero steht manchmal doch kein Nero, sondern einfach nur jedermann.
Nur eine Monarchie kann einen schwachen Monarchen ertragen
Wir sollten uns nicht zu sehr beklagen: Wir werden durch einen Wulff hervorragend repräsentiert – genauso wie wir eben sind im Jahr 2012. Nicht nur Aiman Mayzek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, steht noch in dankbarer Verbundenheit wegen seiner Islamrede hinter ihm, auch zahlreiche deutsche Otto Normalbürger finden, daß die Medienhetze wegen seines günstigen Privatkredits ein Ende haben müsse – schließlich wolle doch keiner mehr zahlen als nötig. Wenn solche Gründe die einzigen sind, warum er uns so passend repräsentiert, stellt sich die Frage, wozu wir einen Bundespräsidenten überhaupt brauchen. Eine Monarchie kann aufgrund der Fülle ihrer Traditionen und Rituale auch einen schwachen Monarchen aushalten, aber das in der Bundesrepublik Deutschland institutionell so schwache Amt des Bundespräsidenten bräuchte jemanden, der es aufgrund seiner Persönlichkeit ausfüllt und das Volk nicht in seiner belanglosen Durchschnittlichkeit, sondern in seinen guten Eigenschaften repräsentiert.
Bis auf weiteres herrscht „Sedisvakanz“ – und dies nicht nur wegen eines Zeros im Amt, sondern auch aus Gründen, die mit den Demokratiedefiziten in Deutschland und der EU zu tun haben. Roman Herzog, der letzte Präsident von einiger Statur, hat diese Defizite klar benannt; Christian Wulff, der Verlegenheitskandidat von Merkels Gnaden, bringt sie um so augenfälliger zum Ausdruck.