Die zweite deutsche Republik hatte ihre politische Krise allzu lange als ausschließlich finanzielle angesehen und wähnte sich im Vergleich zu europäischen Staaten, deren Lage prekärer schien, grundsätzlich stabil. Während die Eliten sich angesichts der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik in Sicherheit wiegten und die im Ergebnis des Sozialabbaus der rot-grünen Schröder-Regierung eingetretenen Wachstumsimpulse für sich verbuchten, übersahen sie, daß die Grundbedingungen sich drastisch verändert hatten.
Zwar war es Deutschland tatsächlich gelungen, seine ökonomische Spitzenposition in der Welt zu behaupten, aber dort wie woanders ließen Umverteilungsprozesse wachsende Teile der Bevölkerung nicht allein ins soziale, sondern vor allem ins politisch-kulturelle Abseits geraten. Wenngleich von Verelendung nicht die Rede sein konnte, so doch von einer gesellschaftlichen Apathie, in der sich die Kraft der Bürger an der Verteidigung eigener Besitzstände erschöpfte. Insbesondere die völlig entpolitisierten Gewerkschaften boten mit ihren Demonstrationen und Verhandlungen um Lohnprozente ein Beispiel. Daß der Spritpreis die Menschen weit mehr interessierte als die Bürgerrechte, offenbarte, daß der Citoyen zum Konsumenten degeneriert war. Gerade die ökologische und intellektuelle Linke verschliß sich an der Entwicklung eines „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“.
Das Establishment registrierte zwar eine zunehmende „Politikverdrossenheit“, hielt dieses Phänomen aber verkürzt für eine Folge hedonistischer Lebenseinstellung. Discounterpreise und das Überangebot von Unterhaltung über neue Medien verhießen selbst der wachsenden Zahl von Deklassierten ein immer noch passables Auskommen, freilich auf materiell wie kulturell geringem Niveau. Eine zunehmend ungerechte Verteilung – die oberen zehn Prozent der Deutschen verfügten über achtmal soviel Einkommen wie die unteren zehn Prozent – wurde nicht als dramatische Abkopplung empfunden, solange Transferzahlungen das Überleben innerhalb der Exklusion ermöglichten.
Klientelpolitik der etablierten Parteien
Die etablierten Parteien folgten in ihrer Klientelpolitik stillschweigend der Annahme, Demokratie käme weitgehend ohne ideelle Impulse aus und hätte in traditioneller Form durchaus Bestand, wenn nur grundsätzliche ökonomische und soziale Parameter gesichert blieben. Statt über Grundsätzlichkeiten zu debattieren, wurde gerechnet. Alles eigentlich Politische, also die Suche nach kritischen Positionen gegenüber dem verwalteten Stillstand, wurde als „populistisch oder „ideologisch“ diffamiert. Mehr noch: Politik, selbstverständlich durch Wirtschaft bestimmt, ging nunmehr gänzlich im Ökonomischen auf.
Die „marktkonforme Demokratie“ – ein Ausspruch der sogenannten „Krisen-Kanzlerin Merkel“ – avancierte zum symptomatischen Schlagwort, ganz ähnlich den Leitbegriffen „Wachstum“ und „Konsolidierung“. Hinsichtlich der Arbeitslosenentwicklung wirkte die Statistik vorerst beruhigend, verstellte aber den Blick darauf, daß immer weniger Arbeitende ihren Lebensstandard zu halten vermochten. Einer vergleichsweise geringen Zahl hochqualifizierter und einkommensstarker Verdiener stand eine wachsende Mehrheit von prekären Lebensverhältnissen Bedrohter gegenüber, derer der Reproduktionsprozeß nur noch als Verbraucher bedurfte. – Härten und Ungerechtigkeiten sollten durch äußerlich humane Gesetzlichkeiten scheinkompensiert werden – Diskriminierungsverbote, Bildungsgarantien, „Gender-Mainstreaming“.
Die Situation verschärfte sich, als der Komplex der 2008 beginnenden Finanz-, Schulden- und Euro-Krise nicht mehr durch das Management der führenden EU-Staaten zu beherrschen war und deren eigene Interessen zunehmend divergierten. Erst vor diesem Hintergrund offenbarte es sich als grundsätzliches Problem, daß der prioritär aus wirtschaftlichen Gründen vorangetriebene „europäische Einigungsprozeß“ politisch nie gestaltet werden konnte.
Schwindender europäischer Enthusiasmus
Hatte die als große europäische Völkerfreundschaft beworbene Nivellierung und Normierung nationaler Besonderheiten und Kulturen stets die Skepsis der Bevölkerungen geweckt, so wurde zudem spätestens ab 2012 deutlich, daß insbesondere der Euro-Raum nicht die Gemeinschaft stärkte, sondern umgekehrt die Interessengegensätze zwischen Nord- und Südstaaten sowie zwischen vermeintlich starken und vermeintlich schwachen Volkswirtschaften verschärfte. Weil sich die Bürger selbst von eigentlich existentiellen Entscheidungen über eine EU-Verfassung oder die ungeliebte Einheitswährung ausgeschlossen sahen, entwickelte sich nie ein echter europäischer Enthusiasmus, sondern blieb durchweg propagandistisch suggerierte Wunschvorstellung.
Ebenso erwies es sich als Illusion, daß alle maßgeblichen Kräfte in Ergebnis eines aufklärerischen Läuterungsprozesses der „politischen Mitte“ zugehörig wären, die jederzeit einen Konsens im Sinne des Status quo gewährleisten sollte. „Der freiheitlich säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Diese bereits 1976 formulierte Formel des Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde stellte sich insofern als zutreffend heraus, als daß innerhalb des funktionierenden Sozialstaates zwei bis drei weitgehend entpolitisierte Generationen herangewachsen waren, die zwar im Sozialkundeunterricht von moderner Demokratie erfahren hatten, sich mit ihr aber eigentlich nie identifizierten.
Offizielle Kampagnen und Initiativen der politischen Bildung gingen an ihnen vorüber und erreichten in der Wahrnehmung der Jugend nie die Reizschwelle der Faszination von Konsumismus und Medien, die alle Bedürfnisse vollständig zu bedienen schienen. Jegliche politische oder gar nationale Symbolik war durch die Labels der fetischisierten Markenwelt längst abgelöst. Je willfähriger zudem der Staat Hoheitsrechte und Gestaltungsräume gegenüber Wirtschaftslobby und „Europa“ preisgegeben und „outgesourct“ hatte, um so weniger Bindekräfte vermochte er noch zu entwickeln. Mit der Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht schien die Jugend vollständig von der Verantwortung für das Vaterland entbunden, insofern im „korrekten Sprachgebrauch“ überhaupt noch von „Vaterland“ oder „Muttersprache“ die Rede sein durfte. Persönliche Bewährung für die Nation oder gar „das Volk“ galt als völlig verpönt.
Konsenssucht und entsolidarisierender Individualismus
Obwohl die Lebensbedingungen der Bevölkerung nie die Drastik der in der Krise vielfach beschworenen „Weimarer Verhältnisse“ erreichten, erschien die Politik der Parteien doch ähnlich erschöpft. Letztendlich fehlte ihnen die Vitalität, den erforderlichen Diskurs selbst noch zu gewährleisten. Sie galten als weitgehend diskreditiert – ein demokratiegefährdender Zustand, auf den die wachsende Zahl der Nichtwähler seit langem hingedeutet hatte. Das Wunschbild des latenten Konsenses ließ allzu wenig Unterschiede in Position und Urteil ausmachen. Trotz des umfassenden Wahlrechts sah das Volk kaum mehr Möglichkeiten, mißliebige Entscheidungen abzuwählen und demokratische Alternativen zu ermöglichen, da sämtliche Parteien sich auf das Bekenntnis zu mystifizierten Schlagworten wie „Europa“ und „politische Mitte“ beschränkten.
So fanden kritische Meinungsbildungen folgerichtig zunehmend außerparlamentarisch statt und artikulierten sich an den als radikal verunglimpften Rändern des politischen Spektrums. Weil außerdem im Zuge eines fragwürdigen Liberalisierungsverständnisses Werte und Normen als antiquiert und vormundschaftlich galten und dem „Laissez faire“ eines pauschal positiven Menschenbildes überlassen blieben, mithin also einem sich entsolidarisierenden Individualismus, ging ein tradierter nationaler Zusammenhalt verloren, der seinerseits überhaupt unter historischem Generalverdacht stand.