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Bernd Zimniok, Demografie, Massenmigration

Offene Zukunft, rasende Zeit

Offene Zukunft, rasende Zeit

Offene Zukunft, rasende Zeit

 

Offene Zukunft, rasende Zeit

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Eine der größten Gemeinheiten: Ökonomen, Meteorologen und Zukunftsforscher mit ihren gestrigen Prognosen konfrontieren. Was für ein Gestammel, welch ein Umdeuten, was für ein Rausreden! Nur, warum dieses hochpeinliche Scheitern? Weil der Mensch monokausal gegen eine multikausale Realität andenkt. Gegen ein Netzwerk an Wirkungen, das Autoren wie Leser gleichermaßen überfordert. Nach wie vor rechnet man den aktuellen Status quo einfach hoch und verkauft das als „Prognose“. Schießt nur ein ungedachter Impuls ins Konstrukt, bricht alles zusammen. Dann spielt jeder den Überraschten; nicht wegen dem, was passierte, sondern daß es überhaupt anders kam, als zuvor „berechnet“.

Diese Hilflosigkeit dringt zunehmend ins allgemeine Bewußtsein. Dauerten Epochen einst mehrere Generationen, so ließe sich jetzt alle zehn Jahre eine neue ausrufen. Was erinnert beispielsweise noch an die Zeit um 1989? Als die Konfrontation der Ost-Westblöcke endlich krachte. An die Aufbruchstimmung, abgelöst von entfesselten Globalmärkten, den Sturz der Twin-Tower, gefolgt von Kriegen in Afghanistan und Irak, neue Blockbildungen, den Aufstieg Chinas und die Schwächung Amerikas. Oder den neuen Kommunikationstechnologien, die virtuelle Büros komplett ins Handy quetschen.

Die neue Welt bricht zusammen

Seit zwei Jahren aber bricht diese „neue Welt“ in sich zusammen. Wieder mal. Die globale Wirtschaft stolpert von einer Finanzkrise zur nächsten, der Euro ächzt, die zum Gegnerblock erklärte Welt arabischer Staaten erlebt ungeahnten Umsturz, Japan bricht zusammen, Klimakatastrophenfans und -skeptiker rangeln um Deutungshoheit, die Aufstandskultur erreicht die Mittelschicht westlicher Länder: eine Neudefinition von Demokratie steht vor der Tür. Die Metropole, bis gestern zum Wohnort der Zukunft erklärt, wo Architekten jeden Millimeter Stadtraum effizient nutzen, erweisen sich bei Katastrophen als tödliche Falle.

Gut, daß wenigstens die Ängste sicher scheinen: Fast dankbar entwirft man Hochrechnungen über künftigen Machtzuwachs des Wirtschaftsriesen China, bis ins Jahr 2050 ff! Dabei könnte auch China in wenigen Jahren einstürzen, wie USA, Rußand und Japan zuvor. Wenn’s passiert, werden sich wieder alle wundern und schnell neue Gruselgötzen errichten. Aber nicht nur auf ökonomischen und politischen Sektor gehts rund: Wer hätte gedacht, daß die Familie, in der Welt flexibler Einzelkämpfers zur Liquidation freigegeben, ausgerechnet von Anarchisten und Bohemiens eine Rehabilitierung auf nichtbiologischer Basis erfährt?

Freie Assoziation von Menschen als künftiges Lebensmodell

So geschehen im Manifest „Der kommende Aufstand“ (2010) der französischen Gruppe Tiqqun: Gefordert wird familienähnliche, freie Assoziationen von Menschen als künftiges Lebensmodell, als selbstversorgenden Schutzwall gegen den Isolationsdruck des Marktes. Die Memoiren „?Tage im Dämmer, Nächte im Rausch“ die Regisseur Werner Schröter kurz vor seinem Tod (Frühjahr 2010) niederschrieb, zeigen ihn in rastloser Suche nach Ersatzfamilien in Künstler- und Schauspielgruppen.

Auch die Wissenschaft bietet kaum mehr weltanschauliche Grundlage. Die abgefeierte Gentechnik hat ihren Glanz als Alleserklärer relativiert: Gene stellen nur einen Aspekt im Netzwerk der Einflüsse. Derzeit wird sie von der Neurobiologie als mythisch überhöhte Wissenschaft beerbt. In der Astronomie entzieht sich das Weltall in unheimlicher Weise: Der Urknall, so erklärte Astrophysiker Günther Hasinger vor wenigen Tagen, stehe nicht bloß am Beginn des Universums, sondern findet noch statt.

Gott als dunkle Energie

Der Raum dehnt sich dabei schneller als Licht, so daß wir viele Bereiche des Universums, auch nach Milliarden Lichtjahren und mit optimiertem Hubble-Teleskop, wohl niemals sehen werden. Hasingers Gottesbild: „Es ist eine Kraft, die das ganze Universum durchzieht. So wie die dunkle Energie. Vielleicht ist Gott das Nichts. Aus dem alles entsteht.“ Dieser Schöpfer wäre, passend zum Zeitgeist, ein ziemlich planloser Aktionist.

Diese wenigen Beispiele werden in zehn bis zwanzig Jahren ihrerseits veraltet sein. Die Welt entflieht dem intellektuellen Zugriff, man kann sich in ihr nicht einrichten – die Zeit dazu fehlt. In allen Bereichen, Wissen, Kultur, Gesellschaft, Arbeit, erlebt der Mensch uneinholbare Dynamisierung: Kaum im neuen Raum eingerichtet, wird er wieder rausgeschmissen. Das macht alles Weltverstehung zur Pokerpartie. Uwe Tellkamp deutet in seinem Roman „Der Turm“ (2008) die DDR als letzten Versuch, die rasende (Neu-)Zeit anzuhalten, eine Insel der Zeitlosigkeit, der Erstarrung zu schaffen: „Maulwurf, blind in finstrer Erde, Morgen, Abend, oder Nacht, doch ohne Zeit, das war die Furcht: doch ohne Zeit.“

Chronos ist ein grausamer Herrscher

Solcher Stillstand sorgt für Weltentzug, doch heutige, totale Dynamisierung läßt die Welt ebenso verschwinden. Der Zeitgott Chronos ist ein grausamer, totalitärer Herrscher. Eine Weltveränderung, die über kosmetische Korrektur, über pure Reform und Modernisierung hinausgeht, wäre eine Revolution der Zeit: Wir müßten „uns (die) Zeit nehmen“, sie uns zurückerobern, anstatt uns von ihr beherrschen zu lassen. Das würden bedeuten, seelisches Wohlergehen außerhalb (unaufhaltsamer) Dynamikprozesse zu suchen, ohne völlig aus ihnen auszusteigen.

Für Anpasser hält das Leben nur schlechte Trostpreise bereit. Vielmehr belohnt es geduldiges Sich-einlassen, Zuhören, das Verfolgen der eigenen Lebensaufgabe, Hilfe am Mitmenschen, spirituelles Fragen nach dem Geheimnis der Existenz. Alle Politik, Ökonomie und Kultur, die in die „Sakramente des Lebens“ (H. Blüher) eingreift, verdient Zurückweisung. Oder wenigstens Relativierung. Wen die Rückeroberung der Zeit ängstigt, wer ihr den Mut verweigert, braucht sich um kommende Weltzerstörung gar nicht erst zu sorgen: Er ist nämlich bereits tot.

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