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Neujahr in Sicht

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Neujahr in Sicht

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Dieser Tage beginnen mit den Resümees eines turbulenten Jahres die Prognosen für das nächste. Bei allen Analysen: Wenig genug ist absehbar. Was etwa wußte der Januar 1914 vom Sommer, was das Neujahr 1989 vom Herbst? Ahnungen mochte es geben, diffuse, vorbewußt, aber keine Flammenschrift an der Wand, keine Menetekel. Die Illusion, sich mitten im Fluß der Geschichte auf sicherem Terrain zu befinden, gehört offenbar zu den Grunderfordernissen von Existenz überhaupt.

Das prägendste Ereignis meines bisherigen Lebens bestand darin, im Leipzig der Jahre 1989/90 Zeitzeuge des Untergangs eines so aufgerüsteten wie sklerotischen Staates geworden zu sein. Interessanter noch als das Vorher und Nachher, eindrucksvoller als die geschwollene Rede von Freiheit und Demokratie und der damit einhergehende Frontalangriff westlichen Konsumismus erschien mir, daß es geschah, daß sich über Nacht alle Zuschreibungen ändern könne, daß die Zeitungen und Häuserwände plötzlich voll der Worte waren, die gestern noch – völlig tabuisiert – nie und nimmer ausgesprochen werden durften.

Texte auf altem Papier

Während einer Wende bricht sich als erstes die neue Sprache Bahn. Von der Zensur befreit, disqualifiziert sie sofort die alten Sprachregelungen und die Verlautbarungsrhetorik der Stagnation. Faszinierend auch, daß sich Gesetze und Verfassung plötzlich als das erwiesen, was sie ihrer Natur nach sind, sich am Leben verschleißende Texte auf altem Papier, deren Geltung historisch beschränkt bleibt.

Phänomenal ferner, wie die Menschen relativ komplikationslos ihre Einstellungen änderten, so wie Eisenfeilspäne in einem umgepolten Magnetfeld. Oder eben gar nicht änderten? Die meisten Polizisten blieben Polizisten, die meisten Lehrer blieben Lehrer, die meisten Richter wohl Richter.

Es kamen Gervais Obstzwerge

Bestand die sattsam heroisierte Friedlichkeit dieser „Wende“ gerade darin, daß es meinen Kollegen überhaupt nicht schwerfiel, ihren Schülern die Demokratie ebenso schlüssig zu erklären wie noch Tage vorher die Diktatur des Proletariats? Beides jeweils als zu verteidigende Gipfelpunkte geschichtlicher Entwicklungen. Wichtig war ihnen, daß weiter Gehalt gezahlt wurde. Mit dem Versorger wechselten die Standpunkte, falls es je auf sie ankam. Man hatte jahrelang mit den Pershings der NATO gerechnet, aber es kamen Gervais Obstzwerge.

Gut, es machte sich eine gewisse Sentimentalität breit, die mich rein literarisch und im Ausdruck einer Karikatur an die nostalgische Romantisierung des „Grand Old South“ nach der Niederlage in den Sezessionskriegen erinnerte, aber ansonsten waren alle so unkompliziert in den kapitalistischen Reproduktionsprozeß einzubeziehen wie in die Freiheit des Kaufens, Reisens und RTL-Schauens.

Plus- und Minussaldi

Wie aber jetzt? Einerseits gilt der Summenbegriff der Banken-, Euro- und Schuldenkrise zwar als ökonomisch-finanzielles Großereignis, das wohl allerlei Gefahren birgt, gegen die man Regularien für Plus- und Minussaldi in Milliarden- und Billionenbeträgen mobilisieren muß, andererseits verhindert die zur Ideologie ihrer selbst avancierte Wirtschaft die notwendige Erkenntnis, daß sich hinter dieser Krise der Banken, Währungen und Haushalte die existentielle Krise der bisherigen Demokratie verbirgt, dieses satten Überbaus hedonistischen Wohllebens, der sich um den Preis immensen Ressourcenverbrauchs über einer prosperierenden Warenwirtschaft erhob. Neben dem Verschliß des Planeten brachte sie beeindruckende Innovationen hervor und führte zur Freisetzung des größten Teils der früheren Arbeiterschaft. Wer nicht mehr arbeiten konnte oder wollte, mußte aber immer noch Kunde und Kreditnehmer sein.

Diese Krise will Grundsätzlichkeiten klären, gegen die sich alle bisherigen vermeintlichen Gefahren – die Bürgersöhnchenrevolte von 68 ebenso wie die RAF – als Luxusprobleme erweisen werden. Diese Krise meint die gesamten Grundlagen bisherigen Wirtschaftens und Verteilens und damit alle selbstverständlich gewordenen Lebensgewohnheiten im Übermaß des Produzierten und Konsumierten. Demokratie legitimierte sich in den letzten dreißig Jahren allein durch übervolle Supermarktregale und deren Erschwinglichkeit. Der Citoyen degenerierte zum Discounterkunden; und wer von der Wirtschaft freigesetzt war, wurde alimentiert, um „teilhaben“, also den XXL-Einkaufswagen weiterschieben zu können.

Mehr EU oder weniger EU?

Wir stehen vor prinzipiellen Neuordnungen. Für die Staaten und die EU sind die anstehenden Korrekturen bislang nur Mathematik, weil die Politik seit Jahrzehnten keine Erfahrungen mehr mit sozialen Bewegungen und deren kulturellen Ausdrucksformen gemacht hat. Die Monetaristen konnten den Kontinent einer fatalen uniformen Geldpolitik unterwerfen, die hier zu Überkonjunktur, dort zu Rezession führte, und stehen jetzt vor einem Ganz-oder-gar-nicht des Euro. Das Ganze wird ohne Transfers nicht möglich sein, das Gar-nicht ein Zurück zur stärkerer nationaler Verantwortung bedeuten, also die EU in ihrem bisherigen Verständnis weitgehend obsolet machen. Beides aber ist nicht im friedlichen Einvernehmen zu erreichen und wird nicht von alten Herren in Expertenrunden entschieden, die schon stolz auf ihr Handeln sind, weil sie mal eine Nacht lang wacker miteinander am Tisch saßen. Es werden andere, jüngere, machtvollere Kräfte eingreifen. Sie sind von links bis rechts längst bereit.

Innenpolitisch wird das bisher nur aufgeschobene Folgen haben. Der Kommunismus und der Faschismus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sind auch aus Wirtschaftskrisen entstanden. Erwähnt man dies, erntet man nur das Hohnlachen der Saturierten. Aber anzunehmen, daß so wesentliche Entscheidungen, wie sie 2012 anstehen, zu vitalen politischen Reflexen und Bewegungen führen müssen, ist weder Schwarzmalerei noch Verschwörungstheorie. Ergreifen wir die Chance, die in jeder Veränderung von Grundvereinbarungen liegt, vor allem jene der zu klärenden Sprache und Rede.

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