Ich gebe zu, es ist alles andere als amüsant, mit zwei Kindern und viel Gepäck am Bahnsteig mit Hunderten anderer weihnachtsgestreßter Reisender zu stehen – und zwar da, wo der eigene Wagen anhalten soll – um dann die bittere Erfahrung machen zu müssen, daß es diesen Wagen gar nicht gibt. Denn es handelt sich um einen Ersatzzug.
Das gesittete Verhalten der Wartenden schlägt innerhalb weniger Sekunden in panikartige Hektik um: Menschen rennen aufgeregt hin und her, alle mit dem Ziel einzusteigen – und zwar vor allen anderen. Ein Blick durch die Fenster des ICE verrät allerdings, daß sich genau das schwierig gestalten könnte. Denn nicht nur alle Plätze sind bereits belegt, sondern auch der gesamte Gang. Und das, bevor die Türen an unserem Bahnhof überhaupt aufgegangen sind.
Kommt man auf die irrwitzige und lächerliche Idee, einen Schaffner am Gleis schnell zu fragen, was man denn nun mit kleinen Kindern am besten machen sollte, bekommt man die hilfreiche Antwort: „Na, entweder steigen Sie ein, oder Sie lassen es bleiben!“
Wir lassen es natürlich nicht bleiben und quetschen uns rein. Im Zug ist es eng: Die Menschen drücken von hinten – schließlich wollen auch sie noch einsteigen. Aber vorwärts geht es nicht – und erst recht nicht mit dem Kinderwagen. Doch Zeit, den zusammenzuklappen, gab es nicht: Seitens der Bahn gab es ja schließlich keine Information.
Mehrere hundert Euro für Fahrkarten
Nun stehen wir da: Die Kinder jammern, ein Kind bekommt einen umkippenden Koffer an den Kopf und fängt an zu weinen. Die Menschen sind genervt – wegen dem Heulen, dem Kinderwagen und wegen allem. Just in dem Moment, als die Stimmung ihren Höhepunkt zu erreichen scheint, taucht ein Schaffner aus dem Nichts auf und versucht, die Fahrkarten zu kontrollieren. Einige Passagiere weigern sich, diese rauszuholen.
Unsere reservierten Plätze sind zusammen mit unserem Wagen verschwunden – wir hätten es durch die Massen aber eh nicht bis dorthin geschafft. Eine Durchsage der Bahn versucht zu erklären: „Alle Reservierungen in diesem Zug sind aufgehoben, da es mehr Passagiere gibt, als Plätze.“ Irgendwie eine eigenartige Logik.
So bleiben wir mit den Kindern im Gang sitzen. Da haben wir es allerdings noch gut. Denn manche haben so wenig Platz, daß sie nicht mal sitzen können. Auch sie hatten wahrscheinlich reserviert und mehrere hundert Euro für ihre Fahrkarten bezahlt.
Jammern auf hohem Niveau
Aber genug geklagt: Denn wir sind auch so angekommen – auch ohne hochgelobten „Komfort“. Schließlich sind ein paar Stunden Bahnverspätung und eine abenteuerliche Bahnfahrt, die an Entwicklungsländer erinnern, nicht das Ende der Welt. Es handelt sich dabei lediglich um Wohlstandsprobleme – Jammern auf hohem Niveau.
Das scheinen auch die meisten Mitreisenden so zu sehen: Die Stimmung im Zug ist freundlich, die Menschen rücken zusammen, machen Platz füreinander, und Wildfremde unterhalten sich – es kommen sogar einige wirklich interessante Gespräche zustande, die das Alltägliche und das Wetter übersteigen. Eine ältere Dame liest den Kindern im Wagen ein Buch vor, das mitgenommene Essen wird geteilt und Erinnerungsfotos werden geschossen.
Wenn es nicht zu verkitscht klingen würde, könnte man genau das als den vielbeschworenen „Geist der Weihnacht“ bezeichnen – etwas, das durch pünktliche Züge und die moderne Anonymität verlorengegangen ist. Was für ein großzügiges Geschenk der Bahn an die Deutschen, ihnen die Gelegenheit zu geben, diesen Geist wiederzuentdecken.
Bedanken werde ich mich bei der Bahn trotzdem nicht. Schließlich bin ich genug damit beschäftigt, das Formular, das man für die Erstattung der Sitzplatzreservierungen und die neunzigminütige Verspätung einreichen muß, korrekt auszufüllen.