Berlin, Alexanderplatz: Eine ganze Hotel-Etage wurde zum Casting-Schauplatz, veranstaltet von einer Kinokette. Die suchte aber keinen Filialleiter, sondern schlicht und ergreifend ein paar Kartenabreißer. Bot also einen Mini-mini-Job, der höchstens 7 Euro pro Stunde einbringt. Trotzdem drängelten die Anwärter in Scharen und mußten warten. Endlos warten.
Der Casting-Chef verspätete sich nämlich. Nach zwei Stunden kam er angehastet und erklärte die Spielregeln. Durch das Spielen von Extremsituationen sollten sich die „sozialen Kompetenzen“ der Anwärter zeigen. Beispiel: Einer macht den Kartenabreißer, ein zweiter spielt einen Kinobesucher, der ohne Ticket in die Vorstellung will. Wer setzt sich durch?
Zwei hilflose Bewerber mußten diese Situation als Impro-Spiel präsentieren, während eine strenge Jury deren Spontanität und Durchsetzungsfähigkeit überprüfte. Wohlgemerkt, es ging um einen sieben-Euro- Job. Am Ende des Tages blieben circa zehn glückliche Gewinner übrig, das neue „Kompetenz-Team“ der Kartenabreißer. Dieses Casting hat vor einigen Jahren tatsächlich stattgefunden. Es verriet, darin ähnlich den „Managerworkshops“, vor allem eins: Soziale Kompetenz ist die Fähigkeit zur theatralen Inszenierung, zur Performation.
Wirtschaft strebt nach „Win-win-win“-Situation
Deshalb wird das Fach „Theaterpädagogik“ keineswegs nur von Lehrern und Erziehern studiert, auch Geschäftsführer, Manager und Abteilungsleiter lernen durch szenische Versuchsanordnung.
Parallel dazu hat die Theaterwissenschaft den Bühnenrahmen längst gesprengt und beobachtet Vorkommen und Anwendung theatraler Mittel im Alltag, bei öffentlichen Veranstaltungen und in der Politik, wie Bastian Behrens in seiner kürzlich erschienen Dissertation „Nachhaltiges Management und Theatralität – Inszenierung und Simulation als Instrumente der Widerspruchsbewältigung“ (2010) untersucht hat.
Schließlich steht die Wirtschaft im Zeitalter verknappter Ressourcen vor dem Problem, Ökonomie (also Effizienz), Ökologie und Soziales unter einen Hut zu bringen, alle Ansprüche soweit zu befrieden, daß daraus eine „Win-win-win“-Situation entsteht, und keine der drei Parteien als Verlierer übrig bleibt. Das verlangt Inszenierung, zumal auch Aktivisten und NGOs zu performativen Mitteln greifen.
Jede Persönlichkeit ist Maskerade
Da prallen effizient inszenierte Protest-Chöre der NGOs vor multinationalen Konzerngebäuden auf deren Schlichtungs- und Verwischungs-Auftritte. Da veranstalten Firmen eigene Preisverleihungen „für besonders gelungene“ Berichterstattung über wirtschaftliches Nachhaltigkeitsengagement. Solch eine Event-Bühne erlaubt dem Konzern, seine „favourierte Definition von Nachhaltigkeit als möglicht effizienter Zweckverfolgung zu zelebrieren“.
So wird die Preisverleihung, die Gepriesenen und die Laudatoren zum Bestandteil eines performativen Aktes, verkörpern das Effizienz-Modell. Bastian Behrens Analyse, nicht durch einseitige Parteinahme beengt, schärft beiden Seiten, Unternehmern wie Aktivisten, das Bewußtsein für das Inszenatorische der Auseinandersetzung. Natürlich vertritt er nicht den naiven Glauben, man könne dieses Spiel abschaffen und sich „maskenfrei“ gegenüberstehen. Das Performative ist unabdingbarer Bestandteil der menschlichen Existenz, nicht zufällig hieß das griechische Wort für (Theater-) Maske „persona“.
Jede Persönlichkeit ist Maskerade, ist Inszenierung. Diese performative Anthropologie wurde vorbildlich vom Berliner HAU-Theater reflektiert, als es Karten für eine gewöhnliche Gerichtsverhandlung anbot. Dies schaffte ein Bewußtsein, daß alle Prozeßbeteiligten, Richter, Anwälte, Zeugen und Angeklagte in ihrem Streit Schauspieler sind, ausgestellt in eine performative Situation.