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Thilo Sarrazin, Deutschland auf der schiefen Bahn, Langen Müller Verlag

Spätrömische Dekadenz

Spätrömische Dekadenz

Spätrömische Dekadenz

 

Spätrömische Dekadenz

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Es ist heutzutage eher selten, wenn Politiker zu historischen Analogien außerhalb der bekannten jüngeren deutschen Geschichte greifen. Der deutsche Außenminister macht eine Ausnahme. Bundesdeutschlands Sozialstaat sei auf dem Weg zur Spätrömischen Dekadenz, oder ist dort schon angekommen, so Guido Westerwelle.

Gemeint hat er damit die Höhe der Sozialleistungen, die es dem Empfänger staatlicher Transfergelder heutzutage im Prinzip möglich machen, gepflegt und nicht ohne Luxus unter Bedingungen in den Tag zu leben, die auf dem überwiegenden Rest des Planeten als paradiesisch gelten würden. Wer etwas anderes sagt, sagt nicht die Wahrheit.

Wer es allerdings so wie Westerwelle sagt, sagt auch nicht die ganze Wahrheit. Das liegt zum einen daran, daß die genannten Transfergelder unter den jetzigen Bedingungen nur den genußvoll treffen, der mit der arbeitenden Existenz tatsächlich abgeschlossen hat, sein Vermögen längst durchgebracht hat (oder durchbringen mußte) und dem es moralisch gesehen nichts ausmacht, dem Staat auf der Tasche zu liegen.

Dauerberieselung von Brot und Spielen

Dann läßt sich in Deutschland heute tatsächlich wie im Alten Rom unter der Dauerberieselung von Brot und Spielen eine anspruchsvolle Existenz führen, in der Gewißheit des steten finanziellen Tropfens. Wer arbeiten will, eigentlich gespart hat und unverschuldet in diese Lage kam, den treffen die gegenwärtigen Regelungen hart. Leistung lohnt sich nicht. Das ist die Grundbotschaft des gegenwärtigen Sozialsystems und daran plant auch die FDP keine Änderung.

Womit wir wieder bei der Dekadenz wären und der Rolle der Westerwelle-Partei im Rahmen des Systems. Der Dekadenzbegriff geht von einer ganzen Reihe an Grundannahmen aus, die aus Sicht des Historikers etwas fragwürdig sind. Früher war bekantlich nicht alles einmal besser, wie es die Dekadenztheorie nahelegt. Wenn sie aber etwas zutreffend bezeichnet, dann nicht nur eine Ära des leistungslosen Genusses, sondern vor allem eine Ära, in der alte Begriffe und Werte zwar noch gebraucht, aber nicht mehr geachtet werden.

Dekadenz in der heutigen Gesellschaft

Dazu gehören in der Bundesrepublik gegenwärtig solche Begriffe wie Parlamentarismus, die erkennbar entwertet sind, wenn der gewählte Bundestag praktisch ohne Debatte ein Gesetz wie den Lissabon-Vertrag durchwinkt, das seine eigenen Kompetenzen in verfassungswidriger Weise beschneidet. Dazu gehören Parteien wie die FDP, die lebhaft die Abschaffung eines Ministeriums fordert, um es bei erster Gelegenheit selbst zu übernehmen, Steuersenkungen ankündigt, von denen jeder weiß, das sie nicht bezahlt werden können, oder mit Gebrüll ein einfaches Steuersystem prophezeit, um dann bei der Mehrwertsteuer eine Unterscheidung zwischen Hauseseln und Wildeseln einzuführen.

Die Zahl der Beispiele ließe sich beliebig vermehren. Sie deuten in der Tat auf Dekadenz in der heutigen Gesellschaft hin, in deren Mitte bekanntlich die Parteien und ihre Vorsitzenden sich gerne sehen. Insofern ist Westerwelles Analyse eine Selbstbeschreibung. Diese Dekadenz drückt sich in der doppelten Botschaft aus, daß Leistung sich nicht mehr lohnt und im öffentlichen Raum ähnlich bedenkenlos und folgenlos gelogen und geschwätzt werden kann, wie es sonst nur in manch frühkindlichen Phasen der Fall ist.

Das Kernproblem mit dieser Form der Dekadenz besteht im offensichtlichen Verfall des Handlungswillens in Teilen der Bevölkerung und der Handlungsfähigkeit gesellschaftlicher Eliten, oder einfach gesagt: Es funktioniert so eben nicht.

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