„Orientierung und Lebenshilfe“ – das will das Format „leben!“ im Digitalsender EinsPlus bieten. Dabei geht es um das Thema „Zwischen Gewalt und Familienersatz – Cliquen auf dem Prüfstand“. Mit Gesprächspartnern aus verschiedenen Milieus soll dort erörtert werden, ob „Cliquen“ im ursprünglichen Sinne noch eine Zukunft haben. Denn: „Mit den sozialen Netzwerken im Internet gibt es neue und freiere Möglichkeiten sich auszutauschen.“
Neu? Wirklich neu ist daran allerdings nichts. Schon Mitte der Neunziger Jahre, als das Internet noch eine kulturelle Randerscheinung war und man mit 56kbit/s-Verbindungen durchaus mal eine Viertelstunde warten mußte, bis sich eine große Seite aufgebaut hatte, existierten bereits thematisch geordnete Nutzergemeinschaften. In „Newsgroups“, den Vorläufern der heutigen Foren, diskutierten die Menschen schon über alle Belange des Lebens. Heute wie damals scheint die vordergründige Anonymität des Datennetzes den Leuten die Zunge, bzw. die Finger, zu lösen.
Aufgebauschter Seitenzweig der allgemeinen Realitätsflucht
Je weniger Zeit, Lust oder Fähigkeit zur alltäglichen Kommunikation vorhanden sind, desto mehr verausgabt man sich im Internet, um an seiner virtuellen Selbstdarstellung zu feilen. Höchst detaillierte Realitätsnachbildungen wie „Second Life“ waren nur eine Frage der Zeit; Fantasieuniversen wie „World of Warcraft“, in denen die Spieler schier versinken, sind lediglich ein publikumswirksam aufgebauschter Seitenzweig der allgemeinen Realitätsflucht.
Frei? Daß es in den vorgeblich „neuen“ sozialen Netzwerken besonders frei zuginge, wäre mir allerdings auch neu. Ob sie nun auf amerikanischen Servern liegen, wie „Facebook“ oder „MySpace“, oder deutscher Rechtsprechung unterliegen wie „Wer kennt wen?“ oder das VZ-Imperium mit seinem herausragendsten Vertreter „studiVZ“: Immer und überall ist man an „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ – eine Art Erlaubniskatalog – gebunden; immer und überall gibt es auch sehr rege Freizeitspitzel und Gesinnungspolizisten, die Stunden um Stunden opfern, um mißliebige Profile bei den Administratoren dieser Netzwerke zu melden.
Die moralische Erbärmlichkeit virtueller Denunziationen
Diese Meldungen darf man sich nun nicht als ein simples „Herr Lehrer, ich weiß was“ vorstellen. Vom reinen Gehalt und auch der moralischen Erbärmlichkeit her ist es zwar nichts anderes, doch in der Regel werden diese Meldungen rasch und kompromißlos geahndet – und zwar mit der sofortigen Löschung des betroffenen Nutzers. Ohne vorherige Mahnungen, Warnungen oder Galgenfristen. Dabei ist es meist auch vollkommen egal, ob die Meldung Substanz hatte oder nicht: Die Verwalter sozialer Netzwerke haben üblicherweise weder die Zeit noch das Interesse, um sich eingehend mit virtuellen Denunziationen zu befassen. Es soll nur keinen Ärger geben. Daher drückt man eher auf den Löschknopf, als einem beschuldigten Nutzer noch eine Chance zu geben.
Dieses scheinbar affirmative Verhalten gegenüber regen Anschwärzern hat in der Vergangenheit schon dazu geführt, daß sich auf derartigen Internet-Plattformen regelrechte Initiativen von selbstgerechten Aktivisten bildeten, die gut koordiniert und aus dem Schutz der Anonymität heraus alles meldeten, was ihnen bzw. ihren Stichwortgebern (beispielsweise vor einigen Jahren einmal der Punkrock-Band „Beatsteaks“) böse vorkam. Beim damaligen „MySpace-Massaker“ (Josef Klumb) gingen mehrere Dutzend Profile unwiederbringlich verloren, auf denen wachsame Gutmenschen Runen, Soldatenbilder oder ähnliches erspäht hatten.
Gruppenbildung und Internet-Identitäten
Dagegen nehmen sich die regelmäßigen Löschungen von Junge Freiheit- und Blaue Narzisse-Gruppen bei „studiVZ“ noch harmlos aus. Denn daß mit dem Verlust eines persönlichen Profils für den Betreffenden meist auch der Verlust eines ganzen internationalen Freundeskreises einhergeht, wurde und wird bei diesen Aktionen billigend in Kauf genommen. Kein Wunder, daß das infame „Netz gegen Nazis“ in dieselbe Kerbe schlägt: Dort ist man ja sehr professionell darin, sich in bereits gemachte Betten zu legen. Und was Spitzeleien und Infiltration angeht, so kennt sich zum Beispiel eine Anetta Kahane ja bestens damit aus.
Austausch? Bleiben wir aber einmal beim Beispiel „studiVZ“, wenn es um das Modellieren eines virtuellen Abbilds des eigenen Ichs geht. In diesem vorwiegend von Studenten aus dem deutschsprachigen Raum genutzten Netzwerk läuft das nicht allein über die Angaben, die man zur eigenen Person macht, sowie über hochgeladene Fotos, sondern vor allem auch über „Gruppen“. Diesen „tritt man bei“, woraufhin sie dann im eigenen Profil angezeigt werden – kein Wunder, daß gerade Gruppen zu Aspekten der Weltanschauung (um die größten Profanitäten einmal außer Acht zu lassen) meist sehr schmissige Namen tragen.
Sehnsucht nach Gegenmacht zur allgegenwärtigen Gleichmacherei
Wo „Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz“ und „Gebildet, jung und arrogant“ von einer insgeheimen Sehnsucht nach Besonderheit gegenüber einer allgegenwärtigen Übermacht der Gleichmacherei zeugen, scheinen die „Gruppe für mehr preußische Tugenden“ oder „Du bist so erfrischend konservativ und intolerant“ vielleicht gar Keimzellen einer Trendwende in der akademischen Jugend zu sein? Bringen uns „Werte, Ideale und all die anderen Dinge, von denen du nix weißt“ voran? „Intolerant, politisch inkorrekt und gnadenlos ehrlich“ – und was machen die Gruppenmitglieder daraus? Nichts.
Diese Gruppen, mithin die Internet-Identitäten in ihrer Gesamtheit, sind im Prinzip nur eine konsequente Weiterentwicklung der „Persönlichkeitsstiftung“ durch Markenklamotten, wie das in der Grundschule einmal war. Da kann so ein Grüpplein einen noch so provokanten Namen und über 5.000 Mitglieder haben – Austausch gibt es dort nicht. In den Gruppen wird trotz der Möglichkeiten dazu nicht diskutiert, und virtuelle Bekanntschaften kommen zumeist über ähnlichen Musikgeschmack oder sonstiges zustande.
Abziehbild-Mitglieder in den sozialen Netzwerken
Man sucht sich die Leute heraus, von denen man schon im Vorfeld weiß, daß sie möglichst gleich „ticken“, und läßt sich in seiner Auffassung von sich selbst bestätigen. Keine Antithesen, keine Herausforderung, keine Debatten, kein Wachsen am Anderen. Am Ende: die Sprachlosigkeit. Pfarrer Hans Milch sagte in einer Predigt: „Dieses (…) Jahrhundert ist gekennzeichnet durch die (…) höchstperfektionierte Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit. Das, was außen ist, das Nichtige, Nichtssagende: Zahl, Zeit, Mode, Mehrheit, Meinung, Masse… Lauter Varianten und Ausdrucksformen des Nichts.“
Die sozialen Netzwerke des Internets und ihre Abziehbild-Mitglieder, die ihr Menschsein auf ein Profil im Stil einer Karteikarte selbst zusammenschrumpfen und ihren Spaß daran haben, sind die vorerst äußerste Zuspitzung der Verflachung und Aushöhlung des menschlichen Daseins in der Informationsgesellschaft an sich. Und auch, wenn die Selbstbeschreibung der Gruppe „Scheitelpflicht statt Studigebühren“ mich sehr amüsierte, so bleibt doch festzuhalten: Wer diese konzentrierte Nichtigkeit als „neue und freiere Möglichkeiten sich auszutauschen“ bezeichnet, ist entweder völlig merkbefreit – oder ein willentlicher Advokat der Abwärtsspirale zwischenmenschlicher Kommunikation.