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Die totalitäre Gesellschaft und ihre Feinde

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Die totalitäre Gesellschaft und ihre Feinde

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Was unterscheidet eigentlich eine freiheitliche von einer totalitären Gesellschaft? Diese Frage zu beantworten, ist gar nicht so einfach wie es zunächst scheint. Erstere ermöglicht die Selbstverwirklichung des einzelnen, wohingegen letztere den einzelnen zugunsten der Verwirklichung irgendeiner Ideologie unterdrückt, könnte man zunächst sagen. Die eine will also Freiraum schaffen für das handelnde Subjekt, die andere will es einem bestimmten Menschenbild gemäß formen.

Das Problem dabei ist, daß bisher noch jede Ideologie von sich behauptet hat, in Wirklichkeit der Selbstverwirklichung zu dienen, mag der einzelne dies zunächst in seiner subjektiven Befangenheit auch nicht erkennen. Denn wenn das Menschenbild dieser Ideologie der „wahren Natur“, dem „höheren Sein“ des Menschen entspricht, dann wird der einzelne durch sie nicht unterdrückt, sondern dieser „wahren Natur“, diesem „höheren Sein“ gemäß überhaupt erst befreit. Zu welchem Preis auch immer.

Es ist lediglich die subjektive Unzulänglichkeit des einzelnen, wenn er anders fühlt. Ein Gefühl, welches er auf dem Weg zur eigenen Vervollkommnung abzustreifen hat. So behauptet also auch die totalitäre Gesellschaft von sich, die freiheitlichste aller möglichen Gesellschaftsformen zu sein. Man müsse nur ein gewisses Maß an „fortschrittlichem Denken“ aufbringen, um dies erkennen zu können. Wer sich nicht in den Reigen dieser Menschheitsbefreier einreiht, der ist eben noch unreif.

Die soziale Stellung der Wahrheit

Was ist aber dann das objektive Kriterium, eine freiheitliche von einer totalitären Gesellschaft unterscheiden zu können, wenn das subjektive Selbstverständnis dafür nicht ausreicht? Es ist die Frage nach der Stellung, welche die Wahrheit in einer Gesellschaft einnimmt. Eine freiheitliche Gesellschaft gründet sich in dem Vertrauen, daß die Gnade der Erkenntnis und die Liebe zur Wahrheit allen Menschen eigen ist, die eines guten Willens sind. Dies hat bestimmte Konsequenzen.

Es ist eine Unmöglichkeit, daß in einer solchen Gesellschaft bestimmte Annahmen als äußerliche Wahrheit vorgegeben werden. Denn die Wahrheit als solche ist bereits in dem einzelnen veranlagt. Solange nur der einzelne frei und ohne Furcht das äußern darf, was er subjektiv für wahr hält, und es Menschen gibt, die seine Aussagen frei und ohne Furcht auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen, solange kann sich eine Gesellschaft sicher sein, zur Wahrheit zu streben, auch wenn sie diese niemals als Ideologie festlegen kann.

Eine totalitäre Gesellschaft dagegen geht den genau entgegengesetzten Weg. Wozu unnötige Zweifel an bestimmten Annahmen zulassen? Wäre die Annahme des Gegenteils nicht purer Wahnsinn? So glauben Menschen Dinge, die sie für wahr halten, anderen als äußerliche Wahrheit festschreiben zu dürfen. Man macht ja nichts Falsches, so denken sie, wenn auch die Menschen zur Wahrheit geführt werden, die noch nicht so einsichtig sind, wie man es selbst bereits ist.

Jede äußerliche Wahrheit ist eine relative Wahrheit

Diese Menschen allerdings übersehen, daß die Wahrheit in der Welt der Erscheinungen niemals etwas Statisches, sondern sich stets Fortentwickelndes ist. Selbst wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Annahme unzweifelhaft wahr ist, so kann man nicht verhindern, daß diese Annahme irgendwann nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmen wird. In einer freien Gesellschaft wird der einzelne die Wahrheiten von gestern schon zu den Wahrheiten von heute umformen. Was aber passiert andernfalls?

Betrachtet man unbefangen die wirkmächtigsten Ideologien in ihrem Kern, so kann man nicht leugnen, daß sie hier alle durchaus eine relative Wahrheit besaßen. Indem diese aber zur absoluten Wahrheit erhoben wurde, hat man sie dazu verurteilt, sich nicht mehr entwickeln zu können. Dadurch aber wird irgendwann jede Ideologie, diese früher, jene später, zur Lüge. Mag eine Ideologie mit noch so vielen rosigen Wörtern der Hoffnung und Zuversicht gepriesen werden – ihr Sturz wird nur um so gewaltiger werden.

Wer glaubt, mit dieser zwangsläufigen Transformation einer Ideologie zur Lüge habe auch ihre soziale Wirkmächtigkeit aufgehört, der irrt. Jetzt erst, entkoppelt vom Zwang zur Wahrheit, entfaltet sie ihre volle Kraft. Diese oder jene Annahme entspricht nicht der Wirklichkeit? Was soll’s, machen wir die Lüge doch zur Wahrheit. Es ist lediglich die subjektive Befangenheit des einzelnen, der glaubt, hier einen Unterschied ausmachen zu können. Machen wir dieser Einbildung den Garaus!

In einer freien Gesellschaft sind der Glaube an die Erkenntnis, die Liebe zur Wahrheit und die Hoffnung, durch die Rede seines Nächsten vom eigenen Irrtum befreit zu werden, die höchsten Bürgertugenden. In einer totalitären Gesellschaft ist es entsprechend der Glaube an eine Ideologie, die Liebe zur Lüge und die Hoffnung, durch die eigene Rede seinen Nächsten vom eigenen Irrtum so zu überzeugen, daß ihm dieser zur Wahrheit wird.

Nach diesen Kriterien prüfe man unbefangen sich und seine Mitbürger. Gewährt man einem Menschen frei und ohne Furcht dasjenige auszusprechen, was er subjektiv für wahr hält? Gewährt man anderen, seine Aussagen frei und ohne Furcht auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen? Oder verbietet man jenes und dieses, weil es nicht mit einer als Wahrheit gesetzten Ideologie übereinstimmt? Einer Ideologie, die schon längst zur Lüge geworden ist? Sie möge dahinfahren und ihre Protagonisten mit ihr.

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