Neben Schopenhauer ist Nietzsche ein radikal zu nennender „Vollender“ der Aufklärung und wird zur Portalfigur des 20. Jahrhunderts. Für ihn sind Welt, Mensch und Geschichte nicht „prästabiliert“; und indem er aus Schopenhauers Willensmethaphysik zum „Willen zur Macht“ kommt, ist der feste Pfad, der vom Christentum über die Aufklärung zu Hegel führt, verlassen.
Der Kapitalismus auf seinem grandiosen technischen und politischen Siegeszug besticht ihn nicht, sondern gilt ihm als charakterlose Herrschaft:
„In der neueren Zeit bestimmt (…) der Sklave die allgemeine Vorstellung: als welcher seiner Natur nach alle seine Verhältnisse mit trügerischen Namen bezeichnen muß, um leben zu können. Solche Phantome, wie die Würde des Menschen, die Würde der Arbeit, sind die dürftigen Erzeugnisse des vor sich selbst versteckten Sklaventums.“
Diese Entlarvung der Euphemismen von Klassengesellschaft hätte einen geradezu marxistischen Anklang, stellte sich Nietzsche mit seinem Haß auf den Sozialismus nicht deutlich als Gewährsmann einer elitären Reaktion dar: „Der Sozialismus – als die zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten und Dümmsten, d. h. der Oberflächlichen, Neidischen und Dreiviertels-Schauspieler – ist in der Tat die Schlußfolgerung der ‚modernen Ideen’ und ihres latenten Anarchismus.“
„Wo sie Freiheit schreit, widerspricht sie sich selbst“
Der Menschentyp, der im kalten und gottverlassenen Gelände des Nihilismus die Welt zu dem ästhetischen Phänomen gestalten könnte, als daß sie allein noch gerechtfertigt wäre, dieser Mensch ist kein sozialistischer: „Wie nur die Sozialisten lächerlich sind mit ihrem albernen Optimismus vom ‚guten Menschen’, der hinter dem Busche wartet, wenn man nur erst die bisherige ‚Ordnung’ abgeschafft hat und alle ‚natürlichen Triebe’ losläßt.“
Ohne sich auf die Analyse der Produktionsverhältnisse einzulassen, blickt Nietzsche eher gleich unverklärt auf den Menschen und zieht im Gegensatz zu Marx anthropologische Konsequenzen, die den Menschen weder als Demokraten noch als Sozialisten denken lassen. Er bedarf der Sinnbestimmung durch Priester und Philosophen, läuft jedoch ebenso den Demagogen und „Dreiviertels-Schauspielern“ nach, die einen ideologischen Dezisionismus als institutionalisierte Vernunft für die „Herde“ bieten. Propaganda, ein späterer braun-roter Leitbegriff des 20. Jahrhunderts, widert Nietzsche an:
Propaganda für die Änderung der Welt, welch ein Unsinn! Propaganda macht aus der Sprache ein Instrument, einen Hebel, eine Maschine. Propaganda fixiert die Verfassung des Menschen, wie sie unterm gesellschaftlichen Unrecht geworden ist, indem sie sie in Bewegung bringt. Sie rechnet damit, daß man mit ihnen rechnen kann. Im tiefsten weiß jeder, daß er durch das Mittel selber zum Mittel wird wie in der Fabrik. Die Wut, die sie in sich spüren, wenn sie ihr folgen, ist die alte Wut gegen das Joch, durch die Ahnung verstärkt, daß der Ausweg, den die Propaganda weist, der falsche ist. Die Propaganda manipuliert die Menschen; wo sie Freiheit schreit, widerspricht sie sich selbst.“