„Michael Jackson könnte noch leben, wenn …“ so begann jüngst ein Artikel über den verstorbenen „King of Pop“. Es folgte eine Aufzählung der Schuldigen samt ihrer Unterlassungen. Ohne den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, steigt Ärger auf. Ja, verdammt nochmal, darf denn niemand ins Gras beißen, ohne derartige Wenn-Sätze im Nachruf? Egal, wer stirbt, egal, was kaputt oder in die Luft geht: „XY könnte noch leben, wenn …“
Hinter solchen Sätzen steht der – unbewußte – Glaube: Das Leben ist ein harmloses Vergnügen für Unsterbliche, wenn ein paar Hohlköpfe nicht alles verpatzen würden.
Ein Flugzeug stürzt ab. – Ja, warum hat denn keiner mehr die Triebwerke überprüft?!? Die Passagiere könnten noch leben, wenn … Das Leben ist aber voll von Fehlern, Aussetzern und Un-Fällen. Es ist ohne Restrisiko nicht zu haben. Und das ist hoch genug.
Aber für zahlreiche Medien (und deren Konsumenten) ist selbst der Tod nur das Werk böser Buben: So startete ein Fernsehreporter seinen Bericht nach dem Amoklauf in Winnenden mit den Worten: „Jetzt ist der Tod auch in Winnenden eingekehrt.“ Quatsch! Der war da immer schon. Seit es dort Menschen, Tiere und Pflanzen gibt. Er ist nicht nur Resultat menschlicher Schuld. Derartiger Glauben wäre säkularisierter Sündenfall. Dahinter steckt die verdrängte Furcht vor dem Unausweichlichen. Deshalb die „logische“ Formel: Jeder Schrecken kann – theoretisch – verhindert werden. Passiert er doch, war Unterlassung im Spiel. Ergo sind die Unterlassenden – die Todbringer.
Perversionen der Wellness-, Kosmetik- und Ernährungsbranche
Und nicht nur die. Kommt nämlich die Verdrängung des Unausweichlichen so richtig ins Laufen, werden auch jene ausgegrenzt und verspottet, die sein Zeichen tragen. Sprich: Alte, Alternde und Kranke. So versah die Boulevardzeitschrift Bunte ein Foto der US-Schauspielerin Demi Moore mit einem Pfeil. Der zeigte auf Hautfalten unter ihrem rechten Knie. Mrs. Moore trage bereits deutliche Zeichen des Alterns, so lautete der Kommentar. Wie, wenn nicht aus verdrängter Verzweiflung, läßt sich solcher Hohn erklären?
Wer das Stigma künftigen Todes nicht retuschiert, kommt an den publizistischen Pranger. Dem sind auch die Perversionen der Wellness-, Kosmetik- und Ernährungsbranche geschuldet. Vielleicht wurzelt auch der Schlankheitswahn in dieser latenten Angst. Schließlich können Skelette nicht mehr verwesen. Angst vor dem (vergänglichen) Fleisch wird mit dessen maximaler Reduktion bekämpft.
Wie tödlich derartige Abwehrschlachten sind, zeigt der neue Kinofilm „La Countess“ (Die Gräfin, 2008) über das Leben der Elisabeth Bathory. Jener ungarischen Adligen, die mehrere hundert Mädchen schlachtete, weil ein Bad in deren Blut die eigene Haut länger frisch halte – so glaubte sie. Julie Delpy spielt die historische Gräfin mit gleicher Überzeugungskraft wie Paloma Picasso vor ca. 35 Jahren. Nur – das Thema hat erst jetzt wieder hohe Aktualität.
Glücklichweise gibt auch ein filmisches Gegengift zu diesem tödlichen Wahn – auf DVD und in guten Videotheken: „Accion Mutante“ (1995) von Alex de la Iglesias. In diesem spanischen Kracher inszeniert eine Terrorgruppe von Freaks – bestehend aus Häßlichen und Verkrüppelten – die ultimative Schocktherapie gegen die Welt der „Schönen“ und „Makellosen“, jagt Beautyfarmen, Modelshows und Samenbanken in die Luft. Ein notwendiger Genickschuß für den (ästhetischen) Zeitgeist. Ein Kultfilm für alle, die sich Cola ohne Zucker, Kaffee ohne Koffein und Tabak ohne Nikotin nicht länger aufschwatzen lassen.