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Hat ein Gorbatschow eine Bronzebüste nötig?

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Hat ein Gorbatschow eine Bronzebüste nötig?

 

Hat ein Gorbatschow eine Bronzebüste nötig?

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Wenn sein Stern erst gesunken sei, so sagte Napoleon einmal, könne ihn selbst ein Staubkorn aus der Bahn werfen. Dieser Satz ging mir am 9. November, mehr als alles, was man sonst in Deutschland mit diesem Datum verbindet, durch den Kopf, als ich, eher zufällig, in eine Büstenenthüllung für Michail Gorbatschow hineingeriet.

Nein, ich geriet nicht gerade unter das weiße Tuch, an dem nach der üblichen Gedenkrhetorik feierlich gezupft wurde, sondern lediglich unter die etwa hundert Gäste, die diesem Ereignis im Berliner Axel-Springer-Haus beiwohnten: Der Dichter Rolf Schilling, den ich begleitete, ist ein guter Freund des Bildhauers Serge Mangin, der, nachdem er bereits Helmut Kohl, Luciano Pavarotti und Ernst Jünger porträtiert hat, nun auch mit Gorbatschow einen großen Tag erleben durfte.

Wir waren etwas zu früh da, sahen uns ein wenig, um uns die Zeit zu vertreiben, nach Prominenten oder etwaigen Bekannten um und plauderten schließlich, da wir niemanden antrafen, mit der hübschen Hosteß am Empfang, die mich – mehr als den großen Lyriker – mit der Frage nach unseren Berufen in Verlegenheit brachte („Schriftsteller und Verleger“ pflege ich immer zu sagen), bis Mangin uns aufgeregt, aber herzlich begrüßte und Kai Diekmann, der Chefredakteur der Bild-Zeitung, kurz darauf mit seiner Pomadenfrisur an das Rednerpult trat.

Auch ein Tag von Scham und Trauer

So steif und schmierig wie seine Haare war auch seine kurze Ansprache: Der 9. November, so erfuhren wir, sei für uns Deutsche einerseits ein Tag der Freude, andererseits – wegen der „sogenannten Reichspogromnacht“ (er meinte wohl die „sogenannte Reichskristallnacht“, denn die wurde tatsächlich so genannt) – auch ein Tag von Scham und Trauer, und daraus erwachse unsere gemeinsame Verantwortung für die Zukunft. Schöner hätte es auch ein Geschichtsleistungskursler bei der Abi-Feier und selbst eine Bundeskanzlerin nicht sagen können.

Als anschließend Hans-Dietrich Genscher mit seiner gewohnt rauchigen Stimme die eigentliche Festrede hielt, wurden wir etwas versöhnlicher gestimmt; zwar kam uns auch diese Rede schon bekannt vor, und es menschelte nur so vor lauter Hoffnung, Frieden, Zuversicht, neuem Denken diesseits und jenseits der Mauer, die da rückblickend beschworen wurden, aber immerhin war seine Sprechweise leidenschaftlich genug, um unsere Köpfe nicht, wie das vor der Wende bei Politbüro-Mitgliedern während Gedenkreden Honeckers oft genug zu beobachten war, rhythmisch auf die Brust sinken und wieder nach oben schnellen zu lassen.

Die Rede des eigentlichen Stars, Michail Gorbatschow, fiel demgegenüber, trotz einiger Witze über den Ähnlichkeitsgrad seines heutigen Aussehens mit der recht idealisierten und „verschlankten“ Bronzebüste, wieder ziemlich ab; der Inhalt entsprach ungefähr den Auslassungen seines Freundes und Laudators, aber die Versatzstücke „europäisches Haus“, „neues Denken“, „Zusammenarbeit“, „Vertrauen“ usw. folgten ohne Genschersches Pathos, zusätzlich noch durch die Verdolmetschung unterbrochen, zusammenhanglos aufeinander.

Räumliche Nähe der einstigen Feinde

Den Abschluß bildeten Blitzlichtgewitter, Händeschütteln, Posieren erst der Prominenz und dann der Zuhörer neben der Büste; wir verabschiedeten uns von dem noch immer erregten Mangin sowie von der hübschen Hosteß und gingen von der Axel-Springer-Passage in die benachbarte Rudi-Dutschke-Straße, um im „tazcafé“ im Erdgeschoß des taz-Gebäudes ein zweites Frühstück einzunehmen, was mir wegen der nicht nur räumlichen Nähe der einstigen Feinde sowie meiner incognito-Anwesenheit als JF-Autor in der Höhle eines schon etwas bejahrten linken Kätzchens ein leichtes Vergnügen bereitete, ein wenig dem vergleichbar, das man empfand, wenn man als Schüler in den Pausen im Schulgebäude verblieb, anstatt wie vorgeschrieben den Schulhof aufzusuchen.

Wollen wir so etwas wie ein Fazit ziehen, so sind es vor allem zwei Fragen, die sich mir bei diesem Geplänkel über 9. November, Mauerfall, Einheit, Frieden und Freiheit aufdrängten:

Erstens: Warum erfährt man von denen, die über die großen Ereignisse ihrer Zeit maßgeblich entschieden haben, so wenig? Wollen sie dem Publikum über die tausendmal wiederholten Gemeinplätze hinaus nichts verraten, oder ist es tatsächlich nicht mehr, was sie zu sagen haben, und fällt alles darüber Hinausgehende in den Bereich des Historikers?

Staatsmänner, deren Stern gesunken ist

Und zweitens: Ist jemand wie Gorbatschow, der uns vor zwanzig Jahren tatsächlich wie ein Napoleon, als einer der ganz großen, weltgeschichtlich bedeutsamen Männer, erschien, doch nur der rechte – oder gar nur der halbwegs passende – Mann am rechten Ort und zur rechten Zeit?

„Ein Gorbi für die Ewigkeit“ titelte am nächsten Tag die Bild-Zeitung – offenbar braucht selbst ein Gorbatschow eine Bronzebüste, um historisch zu überdauern, und der auf geschlagene Boxweltmeister gemünzte Satz „They never come back“ gilt auch für Staatsmänner, deren Stern gesunken ist. Gorbatschow, der stets den Kairos, den rechten Augenblick, betont hat – sein geflügeltes Wort lautet bekanntlich: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ –, steht als ein Schatten seiner selbst neben gestriger deutscher Politprominenz: Immerhin hat noch Genscher seine Laudatio gehalten, aber mit einer gewissen Kümmernis angesichts der Hinfälligkeit alles Irdischen kann man sich ausmalen, wie der Präsident, der über Glasnost und Perestrojka sein Weltreich verloren hat, heute sogar von Wolfgang Thierse oder Rita Süßmuth geehrt werden könnte. In diesem Fall hätten wir jedoch, trotz unseres Freundes Mangin, die Gedenkveranstaltung lieber mit der hübschen Hosteß verplaudert oder einen Latte macchiato mehr im „tazcafé“ getrunken.

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