Die Angst, lebendig begraben zu werden, ist ein beliebtes Horrorfilmmotiv und war in früheren Zeiten nicht ganz unberechtigt, wie bei Umbettungen bemerkte Kratzspuren in Särgen und veränderte Lagen der Skelette zeigen. Zwar ist es mittlerweile möglich, „Scheintote“, die sich in einem eventuell reversiblen Koma-Zustand befinden, von wirklich Toten sicher zu unterscheiden, aber vor einer anderen Art, lebendig begraben zu werden, kann man auch heute nicht sicher sein: dem sogenannten Locked-In-Syndrom.
Neulich erst ging der Fall eines Belgiers durch die Medien, der dreiundzwanzig Jahre lang scheinbar im Koma lag, tatsächlich aber über ein vollkommen intaktes Bewußtsein in einem gelähmten Körper verfügte, und kurz darauf meldete Spiegel Online, daß in Deutschland bis zu zwölftausend vermeintliche Koma-Patienten ebenfalls Gefangene ihres eigenen Körpers sein könnten. Offenbar kann es einem relativ schnell passieren, aufgrund gewisser nicht bestandener Reaktions- und sonstiger Tests einen „vegetativen Zustand“ bescheinigt zu bekommen, und ist man erst solcherweise abgestempelt, mag man in seiner Körperhülle, die keinem Befehl mehr gehorcht, schreien so viel man will – es hört einen niemand mehr.
Vorstellungen willentlich machen
Eine Tübinger Forschungsgruppe schlägt daher vor, die bislang angewandten, offenbar völlig unzureichenden Tests durch Untersuchungen zu ergänzen, bei denen die Hirnströmungen der Patienten aufgezeichnet und die Reaktionen beim Vorlesen richtiger oder falscher Sätze gemessen werden. Ist der Satz unsinnig, erklärt Niels Birbaumer, der Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen, „gibt’s im Hirn einen riesigen negativen Ausschlag – weil man verstanden hat, daß es ein semantischer Fehler war“. Und „wenn ein Gehirn auf einen komplexen Sachverhalt korrekt reagiert, dann ist es für mich an dieser Stelle ein gesundes Gehirn. Dann kann man nicht mehr sagen, dieser Mensch befindet sich im vegetativen Zustand“, so Birbaumer weiter.
„Und was ist, wenn das Gehirn nicht korrekt reagiert?“, möchte man besorgt nachfragen. Denn schließlich zeigt auch dieses Experiment nicht, ob jemand wirklich kein Bewußtsein mehr hat, sondern nur, ob er Informationen noch logisch und grammatisch richtig verarbeiten kann. Immerhin sind diese Untersuchungen aber noch sicherer als die ebenfalls von Birbaumer durchgeführten Befragungen von Patienten mit Hilfe des sogenannten BCI, des Brain Computer Interface, das es ermöglicht, durch die Impulse der Hirnströmungen etwa einen angeschlossenen Computer zu bedienen, denn die dazu nötige Fähigkeit, sich Vorstellungen willentlich zu machen, ist bei Locked-In-Patienten nach einiger Zeit nicht mehr vorhanden, obwohl sie noch immer bei Bewußtsein sind.
Qual seiner Nutzlosigkeit
Offenbar ist der Wille eng mit der Fähigkeit zur Aktion verbunden: Hat der Bewußtseinsbefehl keine Konsequenzen mehr, geht auch der Wille verloren, und es bleibt gleichsam ein frei schwebendes Bewußtsein zurück. Vielleicht ist dies die Ursache dafür, daß Locked-In-Patienten, wie Birbaumer behauptet, gar nicht so sehr an ihrem Zustand leiden, wie man es von einem lebendig im eigenen Körper Begrabenen erwarten würde. Ein Scheintoter früherer Zeiten, der sich in seinem Sarg krümmte, aufbäumte und gegen den Deckel stemmte, bis er qualvoll erstickte, besaß schließlich noch seine Willenskraft, die an den Brettern des hölzernen Gefängnisses gebrochen wurde; der in seinem reglosen Körper Eingeschlossene verfügt hingegen über keinerlei Fähigkeit zur Bewegung mehr und vergißt daher auch die Qual seiner Nutzlosigkeit.
Letztlich ist jeder Wille der Wille zu einer irgendgearteten Bewegung, und jeder Schmerz die Reaktion auf die Unmöglichkeit einer Bewegung, nämlich der Ausweichbewegung im Falle einer die eigene Oberfläche bedrängenden oder beschädigenden Fremdbewegung. Surrogat einer unmöglichen Ausweichbewegung ist, nebenbei bemerkt, der Schmerzensschrei, der ausgestoßen wird, um mit Hilfe der Stimme die Flucht zu simulieren, die dem Körper unmöglich ist.
Nicht eingesperrt, sondern sogar ziemlich frei
All dies betrifft den irrtümlich für komatös gehaltenen Patienten jedoch offenbar nicht mehr, wie Birbaumers Experimente mit dem Braun Computer Interface zeigen; der Locked-In-Zustand kommt dem eines „reinen Bewußtseins“ am nächsten, auch wenn ein solches niemals meßbar ist, denn jede Meßbarkeit setzt eine Wirkung und damit einen gewissen Grad von Materialität voraus. Es mag zynisch klingen, doch einiges spricht dafür, daß sich das in einem Körper, der keine Befehle mehr ausführt, „gefangene“ Bewußtsein gar nicht eingesperrt, sondern vielmehr sogar ziemlich frei fühlen könnte.