Vergangene Sonntagnacht im ICE 655 von Köln nach Berlin. Es geht auf Mitternacht zu. Der letzte planmäßige Halt in Hannover ist pünktlich passiert, dann plötzlich eine Bremsung aus voller Fahrt, schließlich ein heftiger Ruck und Stillstand der ganzen Maschine. Durch die Fenster des Speisewagens war in einiger Entfernung gerade noch das Bahnhofsschild zu erkennen: „Lehrte“. Der Schnellzug ist ein Stück vom Bahnsteig entfernt zum Stehen gekommen. Etwa fünf Minuten lang passiert nichts, dann folgt die Durchsage: „Wenn Polizei oder Militär im Zug ist, bitte umgehend in Wagen 21 kommen.“
Die Blicke gehen von den Handys hoch, die Zufallsgesellschaft im halb gefüllten Bordbistro mustert sich gegenseitig. Niemand steht auf. Aha, also alles Zivilisten. Aus der Bordküche hört man die Kellnerin tuscheln. Der Schaffner eilt durch den Waggon. Einer fragt ihn nach der Nummer des Speisewagens. „26“ sagt er leise und huscht davon. Ernste Gesichter, immer wieder verstohlene Blicke zu den automatischen Schiebetüren. Keiner sagt ein Wort, und alle denken das gleiche: Was passiert wohl gerade, nur fünf Waggons weiter, am Ende des Zugs, in Wagen 21?
Es ist dieser Übergang von banalem Alltagsverdruß hin zu einem Gefühl grundsätzlicher Verunsicherung, der abrupte Umschlag von der Verärgerung darüber, daß wieder einmal etwas nicht funktioniert („Ach, die Bahn schon wieder …“) hin zu einem grundsätzlichen Verlust des Alltagsvertrauens, den die Gesichter in diesem ICE-Bistro an diesem Abend wie im Zeitraffer widerspiegeln. Ein Verlust, der schleichend und schon seit Jahren von einem stetig wachsenden Teil der Gesellschaft wahrgenommen wird. Und erduldet wird. Bisher jedenfalls, aber das ändert sich gerade.
Nachrichten aus Deutschland erinnern an ein Drittweltland
Denn es läßt sich nicht länger übersehen, geschweige denn medial beschönigen: Da ist etwas anders geworden. Etwas, das so nicht weitergehen kann, etwas, das auf das kollektive Gemüt drückt und das Blasen schlägt. Es ist etwas ganz anderes als die „Transformation“, über die in diesen Zeiten von den Kanzeln der Weltuntergangssekten so viel die Rede ist, aber es hat auch sehr viel mit „Klima“ zu tun und ist gesellschaftlich nicht minder „global“. Und sie betrifft weitaus banalere Belange als den Verlust der Sicherheit im öffentlichen Raum.
Ein Wind der Verwahrlosung des ganz Praktischen weht bis in die entlegensten Winkel des Alltags. Von einem „nationalen Toilettengipfel“ war am Dienstag dieser Woche in Berliner Radiosendern die Rede – in stolzem Aktivisten-Ton. Eine „German Toilet Organization“ habe sich der „chaotischen Zustände“ an deutschen Schulen angenommen, heißt es, und eine zwölfte Klasse des Mainzer Schloßgymnasiums habe für ihren Ordnungsdienst den ersten Preis beim einschlägigen Wettbewerb gewonnen. So weit ist es also. Es braucht eine nationale Kampagne zur Rettung der deutschen Schultoilette.
Wie die Nachricht aus einem Entwicklungsland muß auch klingen, daß Industrie und Gewerbe seit geraumer Zeit über immer häufiger auftretende Stromschwankungen klagen. Die Störungen spielen sich im Millisekundenbereich ab und tauchen wegen ihrer kurzen Dauer in keiner Statistik der Bundesnetzagentur auf. Sie legen aber immer wieder die elektronische Steuerung ganzer industrieller Produktionslinien lahm. Vom Kleinen ins Große und wieder zurück. Da ist die flächendeckend überforderte Bürokratie, der durch die Migrationspolitik fahrlässig verschärfte Wohnungsmangel, das ganz offensichtlich völlig hilflose Lavieren der Regierung in der Renten- und Sozialpolitik, ja in der gesamten Haushaltspolitik.
Kritik an Fehlentwicklungen erreicht sogar die öffentlich-rechtlichen Medien
Und da ist eine Mainstream-Medienlandschaft, die sich so weit von den Alltagserfahrungen der Menschen entfernt hat, daß sich viele lieber ihre eigenen Wahrheiten suchen, oder das, was sie dafür halten. Der geistigen Verwahrlosung oben folgt mitunter eben auch die von unten.
Wer all die infrastrukturellen Dysfunktionalitäten, Mißstände und Ungereimtheiten in Regierungspolitik, öffentlicher Verwaltung und Daseinsvorsorge – und das dröhnende öffentliche Schweigen darüber – ernst und zur Kenntnis genommen hat, konnte sich jedenfalls nicht wundern, daß ein grundlegender Stimmungswechsel im Lande Platz gegriffen hat. Seit dieser Stimmungsumschwung mit dem Ergebnis der Europawahl sogar zur amtlichen Nachrichtenlage wurde, ist die Bestürzung groß. Ein „Wie konnten wir nur …“, so schwant den Ampelstrategen, eine Mobilisierung „… gegen Rechts“ als Vademecum gegen die Verdrossenheit und Verunsicherung in der Bevölkerung einsetzen?
Selbst bis in die TV-Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender hinein schwappt das Entsetzen über den völlig fehlgeleiteten Wahlkampf der regierenden Ampel. Wenn sich beispielsweise die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken von einem völlig fassungslosen Markus Lanz (ZDF) dreimal die Frage nach ihrer Realitätsflucht gefallen lassen muß, will das schon etwas heißen.
Der Hysteriepegel erreicht neue Höhen
Grundsatzfragen, die bislang wenn überhaupt meist nur als exotische Botschaften aus der rechten Subkultur wahrgenommen wurden, rücken ins Zentrum der politischen Debatte. Als etwa der Mainzer Historiker Andreas Rödder (CDU) im November vergangenen Jahres in einem Welt-Interview das Ende der „grünen Deutungshegemonie“ diagnostizierte, wurde dies noch weitgehend als Pfeifen im Walde eines von seiner Partei kaltgestellten Intellektuellen abgetan.
Jetzt muß eine ganze Generation von Jugendsoziologen und anderen Sozialwissenschaftlern eilig ihre Meßinstrumente neu kalibrieren und ihre Methoden neu bewerten, weil sie einen gar nicht so abrupten Wandel nicht wahrgenommen haben, oder nicht wahrnehmen wollten. Der Hysteriepegel in diesen Kreisen erreicht dennoch täglich neue Höhen. Die Großschreiberin des rot-grünen Noch-Mainstreams, Carolin Emcke, erntete auf der „re:publica 2024“ noch frenetischen Applaus des vollbesetzten Auditoriums, als sie das „Ende jedes Pro und Contra“ proklamierte, weil die „richtigen Antworten“ doch längst feststehen. Kampflos werden diese Bastionen also nicht zu schleifen sein.
Der ICE erreichte Berlin an jenem Sonntagabend übrigens mit nur 20 Minuten „Fahrplanabweichung“, wie die Serviceportale tags darauf notierten. Gut zehn Minuten des rund halbstündigen Aufenthalts bei Lehrte konnten wieder gutgemacht werden. Der Grund für diesen vergleichsweise marginalen Verzug konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Mit allen anderen Verzügen und „Fahrplanabweichungen“ in Deutschland wird es wohl kaum so glimpflich abgehen wie in dieser Nacht im ICE 655. Und mit dem Ruf nach „Polizei oder Militär“ allein wird es dabei auch nicht getan sein.