Vor einem Rechtsruck quer über Europa hatte man vor der Europawahl gerade so gewarnt, als bedrohe wieder einmal Hannibal die Tore Roms. Andere hatten gehofft, die Bauernproteste in mehreren EU-Ländern seien Vorboten eines politischen Gezeitenwechsels, der nicht nur dem Green Deal, sondern auch dem Mitte-Links-Bündnis im Europäischen Parlament und obendrein Ursula von der Leyens (CDU; EVP) Präsidentschaft ein Ende setze.
Farmers from across Europe are arriving in Brussels to protest against government and EU regulations that are risking their livelihoods.#NoFarmersNoFoodpic.twitter.com/wWQfllQWaC
— No Farmers, No Food (@NoFarmsNoFoods) June 5, 2024
Sieht man vom politischen Erdbeben in Frankreich und der Fassungslosigkeit der deutschen Grünen ab, hat sich aber nicht viel an „Ruck“ getan. Grüne und Liberale (Renew) verloren merklich, Linke und Sozialisten (SD) leicht, die Europäische Volkspartei (EVP) nahm etwas zu, die Fraktionen rechts von ihr wuchsen deutlich, vor allem dank der Wahlergebnisse in Frankreich und Italien, in Österreich und Deutschland.
Blickt man auf die Wahlergebnisse im Vergleich der letzten 25 Jahre, dann stieg zwar der Stimmenanteil rechtsnationaler Parteien im EU-Parlament von 7,5 Prozent auf nunmehr knapp über 20 Prozent. Doch die Zuwächse bewegten sich stets im niedrigen einstelligen Bereich. 2024 und 2019 lagen sie mit jeweils 2,3 Prozent sogar niedriger als 2014 und 2009 mit jeweils 3,1 Prozent. Es gab also keinen Rechtsruck, sehr wohl aber die Fortsetzung des Trends, daß grünlinke Politik seit einem Vierteljahrhundert im europäischen Durchschnitt immer weniger Anklang findet.
Die rechte Mitte geht gestärkt aus der Europawahl hervor
Die einen erschreckt das. Zu solchen Akteuren und Beobachtern gehören insbesondere Grüne, die vor fünf Jahren ein Zeitalter ökologischer Wokeness hatten anbrechen sehen. Bestürzt gibt sich auch, wer jede Kritik an einem Auswuchern von EU-Zuständigkeiten als „Europafeindlichkeit“ auszugeben pflegt – teils in redlicher Naivität, teils mit Lust am Diffamieren EU-politischer Gegner. Andere verdrießt hingegen das eben doch unbestreitbare Ausbleiben eines „Rechtsrucks“.
Sie hatten darauf gehofft, es würden die Sitzanteile der EVP (um die deutschen Unionsparteien) schrumpfen, hingegen die der „Europäischen Konservativen und Reformer“ (EKR, um Giorgia Melonis Fratelli d’Italia) oder gar der noch weiter rechtsstehenden Fraktion für „Identität und Demokratie“ (ID, um Marine Le Pens Rassemblement National, bis vor kurzem auch Heimat der AfD) deutlich anwachsen. Nun aber erweist sich einfach die rechte Mitte gestärkt.
Damit gerät die EVP ins gleiche strategische Dilemma, in das sich Deutschlands Unionsparteien schon lange navigiert haben. Bislang trugen sie gemeinsam mit SD und Renew ein Mitte-Links-Bündnis, dessen Politikwünsche von der Leyen vor allem mit dem Green Deal, doch auch mit Vertragsverletzungsverfahren gegen allzu rechts regierte EU-Staaten umsetzte, nämlich Polen bis zum dortigen Regierungswechsel und Ungarn bis heute.
Die Linke fürchtet die Fortsetzung des Trends
Nun zeigen aber alle Wahlanalysen, daß im wesentlichen diese Mitte-Links-Politik die europäische Linke und vor allem die Grünen schwächte, weil die Folgen etwa der Migrations-, Energie-, Umwelt- und Sicherheitspolitik vielen EU-Bürgern nun einmal mißfallen. Also stärkte man Parteien rechts der politischen Mitte, weil von diesen ein Hinwirken auf Politikkorrekturen erhofft wird. Soll in dieser Lage die EVP einfach links-mittig weitermachen – oder sollte sie eine Kooperation mit der EKR-Fraktion anbahnen, wenn schon ein Schulterschluß mit ihr weiterhin abgelehnt wird?
Aufschieben läßt sich diese Richtungsentscheidung nicht. Die bisherige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wünscht im Amt zu verbleiben. Doch auf die Stimmenpakete etlicher nationaler Delegationen von SD und Renew ist bei der geheimen Wahl kein Verlaß. Also näherte sich von der Leyen Giorgia Meloni und der EKR-Fraktion. Zugleich kündigte sie andere, in Brüssel als „rechts“ geltende Akzente ihrer künftigen Politik an, nämlich eine restriktivere Migrationspolitik und die Verbesserung der Rahmenbedingungen der Wirtschaft im EU-Raum.
Deshalb sorgt sich nun die Linke, unter von der Leyen als Präsidentin würde sich der anhaltende Rechts-trend im Parlament auch in der neuen EU-Kommission fortsetzen. Deutschlands SPD-Kanzler müßte eine nach rechts ausgreifende Mehrheitssuche von der Leyens wohl auch unterstützen, weil – schiede von der Leyen aus ihrem Amt – laut Koalitionsvertrag jemandem von den Grünen das Amt eines EU-Kommissars zufiele. Das aber wäre angesichts großer grüner Wahlverluste unplausibel und dürfte sich auch schädlich für eine SPD auswirken, die weiteres Wachstumspotential gewiß nicht auf der politischen Linken findet.
Die Rechte muß endlich gesprächs- und kompromißbereit sein
In die Quere könnte möglichen Öffnungsversuchen der EVP hin zur EKR-Fraktion allerdings kommen, daß sich im EU-Parlament nach der kommenden Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Ungarn unter anderen Parteien sich das Verlangen nach einem entschiedeneren „Kampf gegen Rechts“ ausbreiten könnte. Immerhin hat die EVP, nachdem man den ungarischen Bürgerbund Fidesz aus den eigenen Reihen ekelte, nun der Partei von Viktor Orbáns neuem Konkurrenten Péter Magyar die Mitgliedschaft in ihrer Fraktion angeboten, obwohl – oder gerade weil? – Magyar sich so gut wie alle Programmpunkte der ungarischen Linken zu eigen gemacht hat. Zugleich bemüht sich Fidesz um eine Aufnahme in die EKR.
Womöglich sollte nicht nur die EVP – und die deutschen Unionsparteien als deren Kern – politische Konsequenzen daraus ziehen, daß an den Wahltagen nicht die Mitte schlechthin gestärkt wurde, sondern die rechte Mitte. Und Parteien wie die AfD könnten bedenken, daß Frankreichs Rassemblement National wohl allein deshalb so erfolgreich war, weil Marine Le Pen den einst rechtsradikalen Front National zu einer dem Anspruch nach normalen rechten Partei weiterentwickelt hat.
Die gleiche Ursache steht hinter dem großen Wahlerfolg von Melonis Fratelli d’Italia. Die AfD hingegen war ihrer potentiell wichtigsten Partnerin, nämlich Marine Le Pen, zu radikal oder zu politisch unsensibel geworden, als daß man durch deren anhaltende Mitgliedschaft in der ID-Fraktion den innerfranzösischen Wahlerfolg gefährden wollte. Also trennte man sich von der AfD. Innerdeutsch scheint das der AfD nicht geschadet zu haben. Doch das zugrundeliegende Problem besteht fort: Nicht einmal in Ostdeutschland kann die dort stärkste Partei Gestaltungskraft entfalten, solange sie mögliche Partner durch selbstgerechte Irreführung der Wähler abschreckt.
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Prof. Dr. Werner J. Patzelt ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Politische Systeme an der Technischen Universität Dresden.