Zwei Mal habe ich an Veranstaltungen mit Wolfgang Schäuble teilgenommen. Zuletzt aus Anlaß des Festaktes im Deutschen Bundestag am 9. November 2018, den er als Parlamentspräsident leitete. Da erschien er als eine der wenigen würdigen Gestalten unter all den Leuten in Räuberzivil, den Flegeln, den gelangweilten Wischern auf ihren Smartphones, während das Staatsoberhaupt irgendwelche schiefen historischen Vergleiche zog.
Zuerst bei einem Auftritt an der Göttinger Universität Anfang der 1990er Jahre, vom Studentenverband seiner Partei, dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), organisiert und vom linken Mob fast unmöglich gemacht. Wenn nicht ein paar beherzte junge Männer einen Cordon gebildet hätten, wäre Schäuble samt Rollstuhl von der provisorischen Rampe gestürzt worden, über die er zum Pult gelangen sollte.
Man sah ihm die Anspannung an, aber auch die Entschlossenheit, sich nicht aufhalten zu lassen. Das mußte jedem Respekt abnötigen, wie überhaupt die Art und Weise, in der er das Schicksal meisterte, das nach der schweren Verletzung durch einen Geistesgestörten und folgender Querschnittlähmung über ihn verhängt war.
„Die Kunst des Möglichen“
Das, die Disziplin, die Leistungsbereitschaft und die Aura der Ernsthaftigkeit, die Schäuble umgab, haben ihm lange die Sympathie vieler Konservativer eingetragen. Er wußte das zu nutzen, machte aber kein Hehl daraus, daß er sich nicht als Konservativer betrachtete. Wenn er Bismarcks Diktum zitierte, daß Politik „die Kunst des Möglichen“ sei, verstand er darunter, daß es in der Politik darauf ankommt, „… in immer neuen Situationen den richtigen Weg oft mehr zu ahnen als zu kennen – eine Art Kunst eben. Das Wort von der ‘Kunst des Möglichen’ zeigt zugleich, daß es immer auf die Gegenwart und die Fähigkeiten derer ankommt, die jetzt handeln. Denn das Mögliche definiert sich aus dem Jetzt“.
Damit war er tatsächlich nahe bei Bismarcks Politikverständnis, aber noch näher bei dem Machiavellis, für den (fast) alles auf den Takt ankam, der die Notwendigkeit erkennen läßt, und auf die Entschlossenheit, die gegebene Lage zu nutzen, also die Tugenden von „Löwe“ und „Fuchs“ zu vereinen. Zum ersten gehörte Schäubles oft unter Beweis gestellte Bereitschaft, Gegner rücksichtslos auszuschalten und ein gelegentlich hervortretender Zynismus, zum zweiten die Fähigkeit, sich immer anderen Lagen anzupassen.
Seine steile Karriere vom Beamten der baden-württembergischen Finanzverwaltung zum Bundesminister und Bundestagspräsidenten, vom Regionalpolitiker der Union zu deren Parteivorsitzenden legen Zeugnis davon ab. Und wahrscheinlich hätte er das Scheitern am letzten Ziel – dem Amt des Bundeskanzlers – darauf zurückgeführt, daß es ihm da nicht gelang, das entscheidende politische Kunst-Stück nach Machiavelli zu vollbringen: „Fortuna“ zu bezwingen.
Schäuble, der „Kohlist“
Man könnte nur einwenden, daß er zuvor den Rat Machiavellis mißachtet hatte, sich von jedem rechtzeitig loszusagen, dessen Stern im Sinken begriffen ist. Schäuble, der „Kohlist“, stand auch dann noch zu seinem Meister, als das angesichts der Parteispendenaffäre menschlich nachvollziehbar, doch politisch unklug war. Was letztlich das Ende seiner Aussicht auf die entscheidende Machtstellung bedeutete. Daß er die angestrebt hat, steht so wenig in Frage wie sein Format, sie auszufüllen. Ob er das im Sinne des übergeordneten Staatswohls getan hätte, wird man aber bezweifeln müssen.
Schäuble wäre wohl auch in Verlegenheit gewesen, zu bestimmen, worin dieses übergeordnete Staatswohl bestehen könnte. Hatte er in den Anfängen seiner Laufbahn zu jenen „Modernisierern“ gehört, die zwar keine Utopie verwirklichen wollten, aber doch von Optimismus erfüllt waren, was die Steuerung der Gesellschaft anging, sah er sich in der Folge vor allem als derjenige, der das Funktionieren des Apparates garantierte. Dann kam – unerwartet – die Wiedervereinigung, die er mit dem Einigungsvertrag technisch bewältigen half.
Kein Staatsmann
Was aber nicht über das Moment der Irritation hinwegtäuscht, das Schäuble sagen ließ, man müsse jetzt wohl „das Nationale … nutzen“, rasch gefolgt von der Erkenntnis, daß der befürchtete Rechtsruck ausblieb. Zuletzt kam die Überzeugung, daß es geboten sei, sich mit den neuen Gegebenheiten der Vielvölkerrepublik rasch zu arrangieren, auch weil uns die Massenmigration angeblich vor „Inzucht“ schützt, und jede Fundamentalkritik mundtotzumachen.
Wenn in den Würdigungen aus Anlaß des Todes von Wolfgang Schäuble viel von seinen Fähigkeiten, wenig von deren Grenzen die Rede ist, dann, weil er ein Teil der Politischen Klasse war, die nach wie vor den Ton angibt. Zweifellos gehörte er zu ihren außergewöhnlich begabten Vertretern, aber nicht mehr als das. Er war keiner, der je gewagt hat, an den Grundkonsens zu rühren: also ein Politiker, kein Staatsmann.