Die beiden am 30. November veröffentlichten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts (Bundesnotbremse I und II), mit denen exemplarisch über neun Verfassungsbeschwerden endgültig entschieden wurde – sieben davon schwerpunktmäßig gegen nächtliche Ausgangssperren, zwei gegen Schulschließungen –, haben unter sachkundigen Kommentatoren Entsetzen ausgelöst. Denn der Erste Senat – traditionell der Grundrechte-Senat, in jüngerer Zeit jetzt auch immer öfter „Harbarth-Senat“ genannt – bricht in seinen Beschlüssen mit tragenden Prinzipien des liberalen Verfassungsstaates.
Trotz der Gewaltenteilung habe „ein gemeinsames obrigkeitsstaatliches Wir“ am Ende der Prozesse gestanden, resümierte Stefan Aust in der Welt. Und selbst in der sonst so regierungsfrommen Zeit beschlich Heinrich Wefing merkliches Unwohlsein: die Richter hätten eine neue grundrechtliche Freiheit in den Mittelpunkt ihrer Entscheidung gestellt, die „Freiheit der Politik“.
Gegenstand der Verfassungsbeschwerden war das „4. Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite“. In ihm wurden weitreichende Freiheitseinschränkungen, wie etwa die Beschränkung privater Zusammenkünfte, nächtliche Ausgangssperren oder die Schließung von Schulen einseitig von der Überschreitung eines 7-Tages-Inzidenzwertes von „Neuinfektionen“ – tatsächlich nur positive Testungen ohne jede Rücksicht darauf, ob jemand wirklich erkrankt ist und wenn ja, wie schwer – abhängig gemacht.
Entscheidung hängt mit Klima-Beschluß zusammen
Diese Regelungstechnik steht in völligem Gegensatz zu allen herkömmlichen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts. Denn normalerweise ist eine Entscheidung der vor Ort zuständigen Behörden nach den Umständen des Einzelfalles aufgrund eines Gesetzes erforderlich, so daß die Maßnahmen der jeweils wirklich bestehenden Gefährdungslage angepaßt werden können. Gegen die Entscheidung der Behörden ist der Rechtsweg gegeben. Demgegenüber war im Rahmen der „Bundesnotbremse“ keinerlei Prüfung der regional wirklich existierenden Gefahr vorgesehen, etwa im Hinblick darauf, wie viele Krankenhausbetten es noch gibt.
Auch wird nicht nur mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz gebrochen, sondern auch mit der Rechtsweggarantie. Denn die Verwaltungsgerichte werden ausgeschaltet, wenn sich die Rechtsfolge unmittelbar aus dem Gesetz ergibt; dann bleibt nur noch die Verfassungsbeschwerde, die aber, wie sich nun gezeigt hat, aussichtslos ist. „Auf das höchste deutsche Gericht kann sich nur einer noch verlassen: die Bundesregierung“ faßt dies Fatina Keilani auf NZZ Online zusammen.
Das Entsetzen über die Entscheidung wird vor allem dadurch gerechtfertigt, daß es sich nicht um eine situative Fehlleistung des Senats unter dem Druck einer spezifischen Situation handelt. Denn die jetzigen Beschlüsse stehen in engem inhaltlichen Zusammenhang mit dem bahnbrechenden Klimaschutz-Beschluß des Senats vom 24. März.
In der neuen Rechtsprechung des Senats sind Grundrechte nicht mehr gemäß des grundlegenden rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips Ausdruck einer menschenwürdegeleiteten, dem Staat als vorausliegend gedachten natürlichen Freiheit des einzelnen, sondern Freiheit erscheint als knappes Gut, das staatlich bewirtschaftet und Bürgern nach dem Grad ihrer Zuverlässigkeit und Kooperationsbereitschaft zugeteilt oder entzogen wird.
Verfassungsbeschwerde von Florian Post wurde nicht behandelt
Schon im Klimaschutzbeschluß scheinen alle Grundrechte wie selbstverständlich unter einem staatlichen Erlaubnisvorbehalt nach Klimagesichtspunkten zu stehen. Nach den Grundsätzen der jetzigen Beschlüsse steht der Grundrechtsgebrauch unter dem Vorbehalt der Ungefährlichkeit, die wiederum allein der Staat beurteilt; Gerichte werden sich hier nicht mehr einmischen.
Auch das Verfahren der „Rechtsfindung“ ähnelt sich. Im Klimaschutzverfahren wie in den jetzigen Verfahren fand jeweils keine mündliche Verhandlung statt – was deswegen merkwürdig ist, weil das Gericht ja Sachverständige angehört hat. Warum fand dies nicht, wie bisher üblich, öffentlich statt? Weil es dann wohl (in beiden Fällen) allzu offensichtlich geworden wäre, daß das Gericht nur die Experten hört, die ohnehin die Bundesregierung beraten und sie zu ihrem Extremkurs entweder verleitet haben oder aber jedenfalls zu dessen Rechtfertigung bereitstehen.
Über die wichtigste Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit der „Bundesnotbremse“, nämlich die des ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Florian Post – die nicht nur auf die mangelnde Eignung nächtlicher Ausgangssperren zur Epidemiebekämpfung abstellt, sondern vor allem die rechtsstaatliche Problematik in den Vordergrund stellt –, ist allerdings noch nicht entschieden worden.
Verfassungsgericht ist keine Hilfe mehr
Auch diese muß aber nun eigentlich als aussichtslos gelten, da der Erste Senat in den jetzigen Beschlüssen die „Handlungsformenwahl“ im Rahmen des 4. Bevölkerungsschutzgesetzes ausdrücklich billigt und einen Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz wie die Rechtsweggarantie ausschließt. Dies verblüfft um so mehr, als der klare Wortlaut von Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 3 Grundgesetz nur Freiheitsentziehungen „auf Grund eines Gesetzes“ und also nicht einfach „durch ein Gesetz“ vorsieht!
Für die nähere Zukunft plant die Politik nun ein „Weihnachtsgeschenke-Einkaufsverbot“ für Ungeimpfte. Diese dürfen dann nur noch Lebensmittel und Bedarfsgegenstände kaufen. Im Gegensatz zur Regelungstechnik des „Bevölkerungsschutzgesetzes“ soll dies vom konkreten „Inzidenzwert“ jedoch völlig unabhängig gelten und würde also hypothetisch selbst in Landkreisen mit „Inzidenz null“ zur Anwendung kommen.
Es liegt auf der Hand, daß diese Maßnahme nur wenig mit Seuchenprävention zu tun hat (nachdem sich längst gezeigt hat, daß die Impfung offenbar viel weniger nützt, als man sich von ihr versprochen hatte), sondern die Unbotmäßigen öffentlich bestraft werden sollen. Vom „Grundrechtssenat“ des Bundesverfassungsgerichts ist hier wohl keine Hilfe mehr zu erwarten; die Bundesrepublik hat sich auf einen chinesischen Weg gemacht.
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Dr. habil. Ulrich Vosgerau lehrte Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht sowie Rechtsphilosophie an mehreren Universitäten.
JF 50/21