Der Glaube der Aufklärung an den Fortschritt, an Wissenschaft und Technik, daß sie alle dazu beitragen, die Menschheit von einer ursprünglichen Unmündigkeit zu immer höheren Stufen der Freiheit zu führen, dürfte von einem Virus endgültig dahingerafft worden sein. Wer die Erklärungen der Regierungsverantwortlichen in den vergangenen Tagen verfolgt hat, sah nicht die wechselweise Herrschaft der Freien und Gleichen, sondern die Beziehung einer Obrigkeit zu ihrer Verfügungsmasse.
Nicht nur, daß jetzt der zweite „Lockdown“ für sehr viele Bürger die Reste wirtschaftlicher Selbständigkeit abräumen wird, welche die erste Quarantäne übrigließ. Vor allem die Art der Vermittlung läßt keinen Zweifel aufkommen, was unsere politische Elite von uns hält. Endlich bekommt die seltsame Stümmel-Rhetorik der Bundeskanzlerin einen ihr entsprechenden politischen Ausdruck. Das „Wir“ des sozialistischen Kollektivs verbindet sich nun auch äußerlich mit dem „Wir“ des Feudalherrn.
„Unverständig“, „uneinsichtig“ und dergleichen sind derzeit Lieblingsvokabeln unserer politischen Elite. Sie umschreiben ein defizitäres Menschenbild, bei dem sich der einzelne nur dysfunktional mit anderen verbindet. Erst eine „kluge Organisation“ der Massen schafft es, den vereinzelten durch „vernünftigen Zwang“ ins Kollektiv zu integrieren. Wer das innerlich als Wahrheit installiert, kann darauf hoffen, wieder in einen Arbeitsprozeß eingegliedert, als „Kulturschaffender“ einen Daseinszweck zugewiesen zu bekommen.
Dadurch können die Verantwortlichen Zwang ausüben
Hier sollten wir uns mit Isaiah Berlins Analyse totalitärer Herrschaft beschäftigen. Jener machte die Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit berühmt. Zur negativen Freiheit gehört alles, was mich vor staatlichen Zugriffen schützt. Das sind also im Wesentlichen die liberalen Grundrechte. Dem gegenüber steht die positive Freiheit, die Freiheit für etwas. Sie ist mein Vermögen, etwas verwirklichen zu können. Im gewissen Sinne wird also die negative durch die positive Freiheit legitimiert.
Ich kann negative Freiheit verlangen, damit ich mich durch positive Freiheit selbst verwirkliche. Doch damit beginnen die Probleme: welches „Selbst“ soll sich hier wie verwirklichen? Wer legt dessen Art und Beschaffenheit fest? Hier liegt das Paradoxon positiver Freiheit, daß ich noch den größten Zwang als Befreiung des Menschen definieren kann. Nämlich dann, wenn ich jenen als notwendigen Schritt auf dessen Weg zur Selbstverwirklichung begreife.
„Der Weise kennt dich besser, als du dich selbst kennst, denn du bist das Opfer deiner Leidenschaften, (…) unfähig, deine wirklichen Ziele zu verstehen“, heißt es bei Berlin. „Du willst ein menschliches Wesen sein. Das Ziel des Staates ist es, dir deinen Wunsch zu erfüllen.“ Dadurch können die Verantwortlichen „Zwang ausüben, um die irrationalen Teile der Gesellschaft rationaler zu machen. Denn in dem wir (…) dem rationalen Menschen gehorchen, gehorchen wir uns selbst“, schreibt Berlin.
Ein manipulativer Akt in einer emotionalen Ausnahmesituation
Die Vernunft, die hier ins Feld geführt wird, ist nicht die unbestechliche Richterin der Aufklärung, sondern ist selbst „Opfer deiner Leidenschaften“. Nämlich dann, wenn sich zwischen der Wahrnehmung des einzelnen einerseits und dessen rationaler und emotionaler Verarbeitung andererseits eine Matrix schiebt, die Kanäle öffnet oder schließt. Es sind das die Medien, die nicht nur unseren Informationsfluß kontrollieren, sondern auch unsere Gefühle konditionieren. Beispielsweise ist es dann „dumm“ oder „irrational“, wenn man in abertausenden von jungen Männern aus Kriegsgebieten eine tödliche Gefahr für unser Gemeinwesen sehen will.
Umgekehrt kann es dann genauso gut „dumm“ oder „irrational“ sein, wenn man in einem Virus dann eben nicht die eine tödliche Gefahr für unser Gemeinwesen sehen will, die abzuwenden jede Anstrengung, jeden Preis rechtfertigt. Es ist ein manipulativer Akt, der in einer emotionalen Ausnahmesituation am besten funktioniert.
Egal welches Gefühl, Hauptsache stark. Das kann eine allgemeine Euphorie sein, durch die der einzelne im erregten Kollektiv untergeht. Wie aber Thomas Hobbes bereits in seinem „Leviathan“ beschrieb, dürfte die mächtigste menschliche Leidenschaft „die Furcht überhaupt und insbesondere die Furcht vor einem gewaltsamen Tod“ sein. Diese Furcht, so Hobbes, ist so zwingend, daß sie die Menschen dazu bringt, ihre Freiheit aufzugeben um sich rational einer Staatsgewalt zu unterwerfen.
Nicht nur Freiheit, auch Furcht ist paradox
Vor zehn Jahren schien es soweit, als ein zumindest in der medialen Matrix tödlicher Virus sich scheinbar anschickte, die Menschheit in den Tartaros zu stürzen. Der neu aufgekommene Influenza-Abkömmling wollte zwar nicht so recht, doch der Journalist Paul Schreyer wies auf die Äußerung des französischen Vordenkers Jacques Attali hin: „Die Geschichte lehrt uns, daß sich die Menschheit nur dann signifikant weiterentwickelt, wenn sie wirklich Angst hat“, schrieb dieser im Mai 2009.
Selbst wenn diese Bedrohung nicht ernst sei, so würde durch „Präventions- und Kontrollmechanismen sowie logistische Prozesse für die gerechte Verteilung von Medikamenten und Impfstoffen“ eine unumkehrbare Entwicklung in Gang gesetzt. „Zu diesem Zweck müssen wir eine globale Politik, eine globale Lagerung und damit eine globale Besteuerung einführen. Dann werden wir viel schneller, als es allein aus wirtschaftlichen Gründen möglich gewesen wäre, die Grundlagen für eine echte Weltregierung schaffen können.“
Nicht nur Freiheit, auch Furcht ist paradox. Zum einen kann sie uns lähmen, zum anderen aber auch anspornen. Es liegt an uns, wie wir damit umgehen, das heißt unsere Vernunft einsetzen. Das Erbe der Aufklärung verpflichtet uns dazu.