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Im Bann der Blitzrune: In Polen herrscht ein Kulturkampf zwischen Tradition und Kollektivismus

Im Bann der Blitzrune: In Polen herrscht ein Kulturkampf zwischen Tradition und Kollektivismus

Im Bann der Blitzrune: In Polen herrscht ein Kulturkampf zwischen Tradition und Kollektivismus

Sicherheitskräfte bewachen eine Kirche, Protest gegen Verfassungsgerichtsurteil
Sicherheitskräfte bewachen eine Kirche, Protest gegen Verfassungsgerichtsurteil
Sicherheitskräfte bewachen eine Kirche, Protest gegen Verfassungsgerichtsurteil Fotos: picture alliance/ZUMA Press / NurPhoto / JF-Montage
Im Bann der Blitzrune
 

In Polen herrscht ein Kulturkampf zwischen Tradition und Kollektivismus

Aus dem Kampf um das Abtreibungsrecht in Polen ist längst ein viel fundamentalerer Kulturkampf zwischen Tradition und Kollektivismus geworden. Doch die Proteste haben auch ihr Gutes – und sie bieten eine Chance für die PiS. Ein Kommentar von David Engels.
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Polen steht unter Schock. Nachdem das reformierte polnische Verfassungsgericht das bisherige, bereits überaus strenge Abtreibungsrecht für ungültig und nunmehr auch die eugenische Tötung ungeborener Kinder mit genetischen Defekten (vor allem dem Down-Syndrom) für nicht verfassungskonform erklärt hat, geschah das Ungeheuerliche.

Nicht nur gingen Zehntausende junge Menschen auf die Straßen, um für das Recht der Frauen auf „ihren“ Körper zu protestieren; es kam auch überall im katholischen Polen zur Schändung von Kirchen, Kreuzwegen und Denkmälern – selbst Statuen Ronald Reagans und des hl. Johannes Paul II. wurden vandalisiert.

Dies sind beileibe keine aufgeblasenen Einzelfälle: Sogar in dem kleinen Warschauer Vorort, in dem ich selbst wohne, wurden die Hände einer lebensgroßen Bronzestatue des polnischen Papstes blutrot angepinselt und die Kirchenmauern mit Graffiti besprayt, während unweit meines Arbeitsplatzes in Posen das Denkmal des Aufstands von 1918 mit „xxxx xxx“ beschmiert wurde, der Chiffre für den Aufruf „Fuck PiS“, und allerorten im sonst so sauberen Polen Schmähinschriften an den Wänden prangen.

Jetzt macht die PiS Ernst

Wie konnte es zur Entscheidung des Gerichtshofes kommen? Bereits seit Jahren bemüht die Kirche sich, die PiS-Regierung zu einer Verschärfung des Abtreibungsrechts zu bewegen, doch angesichts der Unpopularität einer solchen Maßnahme sind entsprechende Texte bisher stets in Schubladen versickert. Nun aber wird Ernst gemacht, wobei es geschickterweise der Verfassungsgerichtshof ist, dem die Verantwortung zugeschoben wurde, um somit Parlament und Regierung aus der ersten Schußlinie zu nehmen.

Über das Kalkül läßt sich nur spekulieren: Möchte der alternde und tiefgläubige PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński, der gerade dem Coronavirus entkommen ist, eine als moralische Verpflichtung wahrgenommene Reform durchsetzen, solange es noch möglich ist? Oder geht es darum, angesichts der jüngsten Regierungskrisen den Weg für ein Bündnis mit den weiter rechts stehenden Parteien vorzubereiten und die Wählerabwanderung zur Konfederacja einzudämmen?

Die Reaktionen auf die Entscheidung waren jedenfalls von unerwarteter Vehemenz. Man mag die harte Entscheidung des Gerichtes durchaus kritisieren und auf einen Kompromiß hoffen, wie Präsident Andrzej Duda ihn ja bereits vorgeschlagen hat. Aber die Gewalttätigkeit der Ausschreitungen kann nur vollständig verurteilt werden.

Widerstand konservativer Jugendlicher

Freilich, wie so oft verlief die Mehrzahl der Proteste friedlich – aber die Frequenz jener schockierenden kirchen- und traditionsfeindlichen Ausschreitungen beweist trotzdem, daß die linksradikale Indoktrinierung der Jugend Ausmaße angenommen hat, welche alle Beobachter überrascht.

Daß die Demonstrationen unter dem Zeichen eines an die NS-„Blitzmädchen“ gemahnenden Rune stehen und zudem Plakate benutzt wurden, mit der die Nationalsozialisten einst polnische Frauen zum Arbeitseinsatz ins Dritte Reich lockten, ist ein weiterer schockierender Stilfehler, zu dem auch der nunmehr wieder häufiger zu hörende Ruf nach mehr „Sozialismus“ zählt: Hier gewinnen Kräfte und Symbole die Oberhand, mit denen in Polen kaum Sympathien zu holen sind, und verraten, daß aus dem Kampf um das Abtreibungsrecht längst ein viel fundamentalerer Kulturkampf zwischen Tradition und Kollektivismus geworden ist.

Freilich: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – und so formierte sich rasch bedeutender Widerstand konservativer Jugendlicher verschiedenster Provenienz, welche seither überall in Polen vor den Kirchen Wache stehen und in den Medien wie zu erwarten als „Hooligans“ oder Rechtsextreme verschrien werden, tatsächlich aber beweisen, daß in Polen im Gegensatz zu vielen anderen westlichen Staaten immer noch eine nicht zu unterschätzende Zahl junger Menschen bereit ist, wenn nötig auch mit den Fäusten die Integrität ihres kulturellen und geistlichen Erbes zu verteidigen.

Die Proteste haben auch ihr Gutes

Niemand vermag zu sagen, wie die Ereignisse sich weiter entwickeln werden. Faktisch wird die Regierungsmehrheit im Parlament wohl gezwungen werden, die nun fällige Gesetzesanpassung etwas milder als ursprünglich vorgehabt zu formulieren: Gerade in Polen wird trotz der scheinbaren Polarisierung der Gesellschaft nie so heiß gegessen wie gekocht, und gerade die PiS zeichnet sich meist durch eine große, ihr von rechts oft vorgeworfene Kompromißbereitschaft und Flexibilität aus.

Auch wird Polens Ruf im Ausland wie erwartet weiter unter den Ereignissen leiden, da die Sympathien der westlichen Medien uneingeschränkt auf Seiten der „Progressiven“ und ihrer antiklerikalen, eugenischen und transhumanistischen Agenda stehen – gerade in Zeiten der Corona-Krise eine bedenkliche Situation für das auf EU-Beihilfen angewiesene Land an Warthe und Weichsel.

Doch haben die Proteste vielleicht auch ein Gutes. Denn nunmehr hat die linksliberale Opposition auch in Polen die Maske fallengelassen und gezeigt, daß sie in ihrem Windschatten Kräfte großgezogen hat, die ultimativ für den Sturm auf Glauben und Tradition, je letztlich für eine neue Kulturrevolution stehen. Dies könnte der Regierung einen doppelten Vorteil bringen: Zum einen kann sie, falls sie die Diskurshoheit beibehält, trotz der breiten Ablehnung des Abtreibungsverbots aus dem Konflikt gestärkt oder doch jedenfalls nicht allzu geschwächt als ultimative Verfechterin von Ordnung und Tradition hervorgehen; gerade im harmoniebedürftigen Polen ein wichtiges Argument.

Traditioneller Freiheitsmarsch als Gradmesser

Zum anderen hat die PiS den im Ausland gar nicht wahrgenommenen, in Polen aber vieldiskutierten Vorwurf, sie rücke zu sehr ins Zentrum, erfolgreich widerlegen und somit auch das Bündnis mit der mächtigen katholischen Kirche festigen können – vorläufig. Ob dies reichen wird, langfristig weiterhin den massiv aus dem Ausland unterstützten Kräften der „Progressiven“ zu widerstehen und trotzdem die jungen Menschen nicht zu vergraulen, wird sich zeigen.

Der traditionelle Freiheitsmarsch vom 11. November dürfte jedenfalls ein Gradmesser der kommenden Ereignisse werden – und es steht zu befürchten, daß er dieses Jahr nicht so friedlich ablaufen wird wie in früheren Zeiten.

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Prof. Dr. David Engels, Jahrgang 1979, Althistoriker, lehrt Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Instytut Zachodni (West-Institut) in Posen.

Sicherheitskräfte bewachen eine Kirche, Protest gegen Verfassungsgerichtsurteil Fotos: picture alliance/ZUMA Press / NurPhoto / JF-Montage
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