Alle Jahre wieder werden Deutschlands Innenstädte am 1. Mai zum Schauplatz anachronistischer Rituale. Dann feiern sich die Gewerkschaften wieder mit markigen Worten, verstaubtem Klassenkampf-Brimborium und allerlei mehr oder minder linksextremen Sektierern im Anhang als die einzig wahren Wahrer von Arbeiterinteressen.
Das propagierte Selbstbild ist so schräg wie die bunten Plastiksäcke, Trillerpfeifen und meist roten Fahnen, mit denen sich erwachsene Menschen gern ausstaffieren, wenn sie als Gewerkschafter auf die Straße gehen. Um echte Arbeitnehmerinteressen geht es dabei immer seltener. Die Großgewerkschaften treten heute als eigenartige Mischung aus sozialindustriellem Konzern und strammlinker Lobbygruppe auf.
Die traditionellen Arbeitermilieus haben sich verflüchtigt
Damit kompensieren sie einen Bedeutungsverlust, der die Gewerkschaftsbewegung ein Stück weit zum Opfer ihres eigenen Erfolges macht. Die scharfen Klassengegensätze des neunzehnten und der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts hat der von den Gewerkschaften mit durchgesetzte Siegeszug des Wohlfahrtsstaats weitgehend obsolet gemacht. Die traditionellen Arbeitermilieus haben sich in der individualisierten Wohlstandsgesellschaft vielerorts verflüchtigt. Sie werden auch nicht wieder lebendig, wenn man einmal im Jahr mit erhobener Faust, gerührtem Herzen und rückwärtsgewandter Nostalgie die alten Lieder singt.
Mitgliederschwund und dadurch erzwungene Fusionen haben aus den Gewerkschaften, die in der sozialen Marktwirtschaft zu „Sozialpartnern“ gezähmt worden sind, unbewegliche Großapparate geschmiedet, deren vordringliches Anliegen die Besitzstandswahrung ist. Das System der Mitbestimmung, das einigen Funktionären üppig dotierte Posten sichert und sogar ermöglicht, daß ein Gewerkschaftsboß kommissarisch den größten deutschen Automobilkonzern führen kann, verführt zur Kumpanei mit Managerinteressen; mancher deutsche Wirtschaftsskandal wäre ohne die großzügig gestreichelte Hand der Arbeitnehmerbank gar nicht möglich gewesen.
Längst sind Gewerkschaften mit eigenen Firmen in der Sozialindustrie tätig
Über die Parteien sind die Gewerkschaften zugleich Teil des politischen Systems geworden. Das dröge, ideologische und realitätsenthobene Mittelmaß der Gewerkschaftssekretärspartei Die Linke ist auch in der SPD noch weit verbreitet; eine Sozialministerin Andrea Nahles, die ihr ganzes Berufsleben in Partei- und Gewerkschaftsbiotopen zugebracht hat, ist das abschreckende Beispiel dafür.
Den Weg der SPD von der Arbeiterpartei zur Lobby der Umverteilungsempfänger sind die Gewerkschaften mit Verzögerung mitgegangen. Längst sind Gewerkschaftsbund und Einzelgewerkschaften mit eigenen Firmen und Gesellschaften selbst Großanbieter auf dem steuerfinanzierten Markt der Sozialindustrie. Nicht daß sie dabei selbst stets vorbildliche Arbeitgeber wären: Zwischen Großverdiener-Funktionären auf der einen, schlechtbezahlten und ausgenutzten Angestellten auf der anderen Seite klafft auch in den Gewerkschaftsapparaten so manche Lücke.
Eher die Verteidigung sozialer Besitzstände als die Schaffung neuer Arbeitschancen
Daß mit großem Aplomb begonnene und mit mageren Kompromissen abgeschlossene Lohnrunden und eine Lohnpolitik, die mit regelmäßigen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzungen und Vergünstigungen für Arbeitsplatzinhaber eher die Verteidigung sozialer Besitzstände als die Schaffung neuer Arbeitschancen im Blick hat, auf die Dauer nicht zur Existenzrechtfertigung reichen, ahnen die Gewerkschaften wohl. Ungern beschränken sie sich in öffentlichen Stellungnahmen auf Arbeitnehmerangelegenheiten.
Wenn die IG Metall für ihre Mitglieder bei Heckler & Koch gegen die Negativkampagne der Bundesverteidigungsministerin gegen das Sturmgewehr G36 zu Felde zieht oder Gewerkschaftsbund und Bergbaugewerkschaft gegen den Bundeswirtschaftsminister Sturm laufen, dessen „Kohleabgabe“ Arbeitsplätze bei den ohnehin von der Energiewende schwer gebeutelten Stromkonzernen bedroht, bleibt das die Ausnahme.
In die Einheitsfront der rotgrünlinken Gesellschaftsveränderer eingereiht
Streiken dürfen Gewerkschaften in Deutschland nur für Tarifbelange, sie haben kein allgemeinpolitisches Mandat wie manche Kollegen in Südeuropa. Zur Kompensation reihen sie sich um so verbissener in die Einheitsfront der rotgrünlinken Gesellschaftsveränderer ein: Bei jeder Demo und jedem „breiten Bündnis“ der üblichen Verdächtigen „gegen Rechts“, gegen mißliebige Parteien, vermeintliche „Rassisten“ und „Homophobe“ sind die örtlichen Gewerkschaftsgliederungen zuverlässig vorne mit dabei und schreiten Seit’ an Seit’ mit Linksextremisten und militantem Krawallpöbel.
Ihre Verfilzung mit Politik und Wirtschaftslobby läßt die Gewerkschaften so gerade dort versagen, wo es neue Felder für die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen zu entdecken gäbe. Die Gefahr des Lohndumping durch Masseneinwanderung und EU-Freizügigkeit ist den deutschen Gewerkschaften, anders als noch zu Zeiten der Gastarbeiteranwerbung, heute keinen Protest mehr wert. Der gemeinsame Aufruf von DGB-Chef Sommer und Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer, die vor einem Jahr eindringlich warnten, „ausländische Fachkräfte durch das Schüren von Ressentiments gegen Zuwanderer abzuschrecken“, ist ein trübes Zeugnis dieser Kumpanei.
Freilich: Die Gewerkschaftsfunktionäre profitieren davon, wenn Einwanderung ihre Klientel unter Druck setzt und sie sich als Löser von Problemen aufspielen, deren Ursachen sie nicht benennen wollen. Sind sie doch über ihre eigenen sozialindustriellen Apparate selbst Einwanderungsprofiteure und Teil der Einwanderungslobby. Seltsam nur, daß kaum ein Mitglied sich fragt, warum es für diesen Verrat auch noch Beiträge zahlen soll.
JF 18/15