Am 8. November war es wieder einmal soweit. Nach Tagen der Spekulation und der Vorabberichte legte die Kommission den aktuellen Fortschrittsbericht über die Verhandlungen mit den möglichen EU-Beitrittskandidaten vor. Dabei umfaßt in diesem Jahr allein die Mitteilung zur Erweiterungsstrategie 68 Seiten. Hinzu kommen acht dicke Berichte über die Fortschritte der einzelnen Kandidaten. Die besondere Aufmerksamkeit der Presse erhielt dabei freilich der Türkeibericht und die in ihm möglicherweise enthaltene Empfehlung zur Einfrierung der Beitrittsverhandlungen.
Eine solche Empfehlung wäre im Grunde nicht abwegig gewesen, schließlich war bereits in den vorab veröffentlichten Teilen des Berichts zu lesen, es hätten „Verfahren und Drohungen gegen Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Akademiker ein Klima geschaffen, das zu Fällen von Selbstzensur geführt hat“.
Der Stand der Meinungsfreiheit gebe darüber hinaus wegen des „potentiellen Einflusses der Anti-Terror-Gesetze auf die Meinungsfreiheit“ Grund zu „ernsthafter Besorgnis“. Es gebe Hinweise auf Folter, und „die Zahl der verfolgten Personen verdoppelte sich 2006“. Außerdem sei die Umsetzung von Reformen ungleichmäßig und habe sich seit 2006 verlangsamt. So wurden bei den politischen Reformen 2007 nur „begrenzte Fortschritte“ erreicht.
Als einzig wirklich positive Neuerung hatte die Kommission eine Begebenheit hervorheben können, die in einem wirklich demokratischen Staat eigentlich selbstverständlich sein sollte: die Überwindung der Verfassungskrise.
Bei ihr sei „das Primat des demokratischen Prozesses“ über das Militär bestätigt worden. Eine Einschätzung, die an anderer Stelle konterkariert wird, wenn es heißt, „hochrangige Vertreter der Streitkräfte“ hätten ihre „öffentlichen Äußerungen zu innen- und außenpolitischen Fragen inklusive Zypern, der Trennung von Staat und Religion sowie der Kurdenfrage verstärkt“.
<---newpage--->Schlechte Note für die Türkei nicht überraschend
Dessenungeachtet urteilt die Kommission in bester Appeasement-Tradition jedoch abschließend, man könne „argumentieren, daß man lieber ein bißchen langsamere Reformen sieht als einen Putsch“.
Diese Bewertung und die in der Folge ausgebliebenen Konsequenzen der schlechten Note für die Türkei sind nicht sonderlich überraschend. Bereits während der Bericht verfaßt wurde, hatte man schließlich darauf geachtet, nicht zu grob zu sein. Die Reformbemühungen sollten nämlich trotz all der Mängel nicht zu negativ dargestellt werden, um niemanden zu beleidigen oder gar eine Anti-EU-Bewegung in der Türkei zu unterstützen. Die EU-Skepsis dürfe ja, so die Meinung der Verantwortlichen, nicht weiter wachsen und so das Land am Bosporus vom Reformkurs abbringen.
Nicht zuletzt deshalb hatten sich die Generaldirektoren der 25 Kommissare denn auch bereits vor der Veröffentlichung des Berichts darauf verständigt, vorerst keine Konsequenzen – wie ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen – aus der Zypernfrage zu ziehen. Eine Möglichkeit, die es ab Ende Dezember gegeben hätte, wenn Ankaras Frist zur Errichtung von Handelsbeziehungen mit der griechischen Republik Zypern ausläuft.
Eine klare Empfehlung der Kommission auf der Basis des Fortschrittsberichts blieb somit selbstverständlich auch aus. Erweiterungskommissar Olli Rehn (Finnland) beschränkte sich statt dessen darauf anzukündigen, es könne gegebenenfalls „Empfehlungen“ der Kommission an den EU-Gipfel Mitte Dezember geben, sollte die Türkei bis dahin ihre Handelsgrenzen für Zypern nicht geöffnet haben.
<---newpage---> EU zieht keine Konsequenz
Die finnische Ratspräsidentschaft setzte aber immer noch auf Diplomatie statt Sanktion. Darum wolle sich die Kommission nicht „wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten“. Schließlich habe Finnland der Türkei erst unlängst angeboten, daß gleichzeitig mit der Öffnung türkischer Häfen und Flughäfen für zyprische Waren aus dem griechischen Teil der Insel auch ein Hafen im türkisch-zyprischen Norden für EU-Waren geöffnet werden könnte.
Der Fortschrittsbericht und die Reaktion der Union zeigen somit erneut der ganzen Welt: Die EU ist in bezug auf ihre Außenpolitik schwach, erpreßbar und steht nicht zu ihren eigenen Forderungen und Werten. Selbst wenn sie negative Bewertungen ausspricht, handelt sie nicht danach. Stellt sie Forderungen auf, die nicht erfüllt werden, zieht sie keine Konsequenz.
Im Gegenteil. Hält sich der Verhandlungspartner nicht an die Vereinbarungen, so bemüht man sich, noch weiter auf ihn zuzugehen und seine Forderungen zu erfüllen, um nicht als der Böse dazustehen. Möchte jemand etwas von der Union – wie beispielweise die Türkei eine Aufnahme –, so tut sie alles, um diesen Wunsch irgendwie zu erfüllen. Hierbei redet sie sich ein, „der Klügere“ zu sein, wenn sie denn nachgeben muß, und wägt sich so in vermeintlicher moralischer Überlegenheit.
Diese Leitlinie des Appeasement zieht sich mittlerweile durch fast alle Bereiche der europäischen Politik und könnte, so sie nicht endlich überwunden wird, Europa an den Abgrund treiben. Die Welt braucht schließlich ein außenpolitische starkes, mit einer Stimme sprechendes Europa, das in der Lage ist, bei der weltweiten Konfliktbewältigung mitzuarbeiten und sie mitzugestalten. Dies können wir aber nur, wenn wir unseren Worten Taten folgen lassen, statt Kuschelpolitik zu betreiben, um niemandem auf die Füße zu treten.