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Ein neues 1929 ist möglich

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Herr Professor Otte, seit dem 28. September, dem Tag, als die Finanzkrise auch in Deutschland ausbrach, sind Sie ein Medienstar. Otte: Als „Star“ würde ich mich nicht bezeichnen. Schade aber, daß der Anlaß für die Medienaufmerksamkeit so traurig ist. 2006 haben Sie Ihr Buch „Der Crash kommt“ veröffentlicht. „Ein Manifest gegen den grassierenden Leichtsinn“ nannte es das „Manager Magazin“, dennoch wurde ihm kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt stehen die Journalisten Schlange für ein Interview mit Ihnen. Otte: Es stimmt, nur wenige Medien haben das Buch zunächst beachtet. Und dennoch wurde es zum Bestseller. Zuerst haben es vor allem Menschen gelesen, die noch eigenverantwortlich mit Geld umgehen: Mittelständler, Freiberufler und andere „bürgerliche“ Leser. Mit Eintreten des Crash hat es nun auch die breite Öffentlichkeit erreicht. Dabei sind Sie weder der erste noch der einzige, der gewarnt hat. Otte: Im wesentlichen waren wir hierzulande zu dritt: Außer mir die Kollegen Eberhard Hamer und Bernd-Thomas Ramb. Beide sind Autoren dieser Zeitung (zum Beispiel in JF 51/02 und JF 6/08). Warum erleben sie nun nicht die gleiche Prominenz wie Sie? Otte: Vielleicht weil mein Buch einen breiteren Ansatz hat und ich — mit Verlaub — auch recht flüssig schreibe. Natürlich spielt außerdem der Zeitpunkt eine Rolle. Hamer kam möglicherweise mit seinem zuerst 2002 veröffentlichten Buch „Was passiert, wenn der Crash kommt?“ zu früh. Damals vertrat er in dieser Zeitung die Ansicht, „der Crash hat schon begonnen“. Otte: Da hatte er völlig recht, denn schon damals lief dieser ganze Wahnsinn, der jetzt zum großen Krach geführt hat. Hat die versagte Anerkennung Hamers und Rambs vielleicht auch politische Gründe? Otte: Bestenfalls am Rande. Eher aber liegt es daran, daß die Medien Themen, die außerhalb des Mainstreams liegen, nicht wahrnehmen. Viele wichtige Inhalte werden aufgrund der Schnellebigkeit der Zeit nicht diskutiert. Und keiner hat einen Anspruch darauf, wahrgenommen zu werden! Ein Problem ist auch, daß es die Disziplin der politischen Ökonomie, die in Deutschland einmal geprägt worden ist — ich erwähne in diesem Zusammenhang den großen Patrioten Friedrich List, aber auch Karl Marx oder Werner Sombart — heute bei uns leider nicht mehr gibt. Warum? Otte: Das hat zweifellos entscheidend mit dem Scheitern des deutschen Staates in zwei Weltkriegen zu tun. Zwar gab es auch nach 1945 noch Vertreter der sozialen Marktwirtschaft, etwa Alexander Rüstow oder Wilhelm Röpke, die sich einen starken, konservativen Staat gewünscht haben, aber im ganzen haben wir Deutschen in der Folge mit unseren wirtschaftswissenschaftlichen Traditionen gebrochen. Am Ende waren die meisten unserer Ökonomen entweder Keynesianer oder Neoliberale. Übrigens, überlebt hat die politische Ökonomie deutscher Prägung ausgerechnet in den USA — wenn auch nur in einer Nische. Dort habe ich mein Studium der politischen Ökonomie vertieft. Sie haben bei Ben Bernanke studiert. Otte: Er war der Direktor meines Doktorandenprogramms in Princeton. Ich erinnere mich noch an die Grillnachmittage bei ihm. Er hat die große Depression von 1929 eingehend studiert und ist als Chef der US-Notenbank genau der richtige Mann. Hätte er die Krise nicht verhindern müssen? Otte: Bernanke ist seit 2006 im Amt, da war es im Grunde zu spät. Man hätte schon vor 15 Jahren handeln müssen. Die Krise war also nicht nur vermeidbar, wie Sie schreiben, sondern auch vorhersehbar? Otte: Auf jeden Fall. Es gibt sozusagen eine doppelte Schuld: die Schuld der Finanzwirtschaft, die Krise verursacht, und die Schuld der Politik, sie nicht verhindert zu haben. Alle reden nun von den Bankern — müßte dann aber nicht auch die Politik zur Verantwortung gezogen werden? Otte: Natürlich. Das Problem ist die Schwäche der Politik. Als ich vor zehn Jahren als Unternehmensberater dem Bundeswirtschaftsministerium Vorschläge zu dessen Reorganisation unterbreitet habe, zeigte mir ein Staatsekretär das ehemalige Arbeitszimmer Ludwig Erhards und sagte: „Früher haben die Konzern-Chefs hier Schlange gestanden, um einen Termin zu bekommen. Heute stehen die Politiker Schlange, um nach ihrer Dienstzeit einen Job in der Wirtschaft zu kriegen.“ Also müßten wir doch die verantwortlichen Politiker jetzt abwählen? Otte: Im Grunde ja, aber nach meiner Erfahrung würde das zu keiner echten Alternative führen. Wahlen ändern nichts? Otte: Die Opposition würde keine grundlegend andere Politik machen. Wenn Wählen nichts nützt, ist die Demokratie defekt. Otte: Die Suche nach Stimmen in der Demokratie macht es eben sehr schwer, langfristige, sinnvolle Ordnungen auch gegen den Trend zu schaffen, wie schon Joseph Schumpeter in seinem Werk „Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie“ von 1942 wußte. Wird diese Krise Spuren in der Politik hinterlassen? Otte: Wie sich das Bild unseres politischen Alltags im Detail wandeln wird, das kann ich nicht sagen. Ich glaube aber, daß sich im Verhältnis von Politik und Wirtschaft etwas ändert. Denken Sie an die Zeit vor 1914. Bis dahin hatten wir im Grunde eine globalisierte Welt. Nach dem Ersten Weltkrieg und den folgenden Krisen kam es dagegen zu einer Renationalisierung der Wirtschaftspolitik. Ich vermute, daß es nach der Erfahrung der Krise heute auch wieder zu einer ähnlichen Reaktion kommt. Die Nation als Schutzraum? Otte: Teilweise die Nation, teilweise werden die Probleme aber auch auf der europäischen Ebene gelöst werden müssen, da das Gewicht der deutschen Wirtschaft mit circa vier Prozent des Weltbruttosozialprodukts mittlerweile stark abgenommen hat. Zumindest wird der Staat wohl wieder mehr Einfluß nehmen. Alle erwarten als Folge der Krise eine Stärkung der politischen Ränder. — Oder werden die Deutschen am Ende in der Mitte Schutz suchen? Motto: „Jetzt bloß keine Experimente!“ Otte: Nein, ich glaube, gerade in der Krise sind die Leute für prononcierte Botschaften empfänglich. Übrigens halte ich es im Sinne des Wettbewerbs der Ideen auch gar nicht für schlecht, wenn sich nicht alles in der Mitte drängt — solange ein demokratisches System das verkraftet. Man sieht diese Entwicklung ja schon in Gestalt des Erstarkens der Linken. Was unserem Parteiensystem allerdings fehlt, ist das entsprechende demokratische Gegengewicht. Ist diese Krise denn überhaupt schon der „Crash“, den Sie prophezeit haben? Otte: Hoffen wir, daß die heiße Phase der Finanzmarktkrise durchgestanden ist. Was aber natürlich noch kommt, sind die realwirtschaftlichen Auswirkungen: Unternehmen schrauben Investitionen zurück, Gewinne sinken, der Konsum flaut ab. Zuerst — und da kommt richtig was auf die Amerikaner zu — werden die USA in eine tiefe Rezession fallen. Wie schlimm wird es werden? Otte: Im besten Fall kommt es zu einer Situation wie in den siebziger Jahren, die in der Krise von 1981/82 gipfelte. Im schlimmsten Fall könnte es mit einer Art 1929 enden. Danach sieht es zwar derzeit nicht aus, aber für den Fall, daß etwa der US-Immobilienmarkt richtig durchsackt und andere negative Faktoren hinzukommen, will ich nichts mehr ausschließen. Was wir in Deutschland auf jeden Fall erleben werden, sind stagnierende Einkommen, steigende Arbeitslosigkeit, höhere Energiekosten, höhere Steuern. Die seit Tagen von den Medien zitierte Berliner Rentnerin Ingrid O., die durch die Lehman-Pleite schuldlos ihre gesamten Lebensersparnisse verloren hat, sagte: „Das ist wie Krieg!“ Otte: Recht hat sie. Denn die Banker sind längst nicht mehr die Berater der Kunden. Die Wirtschaftswoche hat unlängst einen Titel gemacht: „Ich habe Sie betrogen! — Bankberater packen aus“. Die haben verdeckt getestet und festgestellt: Beraten wird nicht, nur noch verkauft! Den „Bankberater“ gibt es nicht mehr, statt dessen sind sozusagen „Bankdrückerkolonnen“ am Werk. Verantwortlich dafür wird der Einzug der „angelsächsischen Kultur“ in die deutsche Finanzwelt gemacht. Otte: Zu Recht. Was waren wir Deutschen denn traditionell? Wissenschaftler, Ingenieure, Militärs — aber in geschäftlichen Dingen doch eher unbeleckt. Früher haben die Deutschen vom „Bankbeamten“ gesprochen. Da sieht man, welches Bild man hatte: Banken als Institutionen der Seriosität! Aber wieso gelang der angelsächsischen Finanzkultur so widerstandslos der Einzug? Otte: Weil eben unsere alte Mentalität, sich für Entwicklungen und Produkte, für Probleme und deren Lösung zu interessieren, der gewinnorientierten Sicht der Finanzmärkte immer mehr nachgegeben hat. Das ist spätestens seit Anfang der achtziger Jahre feststellbar gewesen. War es vermeidbar? Otte: Ich befürchte nicht, denn das hat wohl auch etwas mit dem Verlust unseres Selbstbewußtseins nach 1945 zu tun. Jetzt rufen alle nach einer neuen Moral. Otte: Völlig zu Recht. Sind moralische Appelle, so sehr sie berechtigt sind, nicht müßig, weil realiter nutzlos? Otte: Nein, die Moral hat sich in den letzten Jahren spürbar verschlechtert. Das muß sich wieder ändern. Ludwig Poullain, der frühere Chef der West LB, berichtet zum Beispiel von Mitarbeitern, die ihn gemahnt hätten: „Wenn wir das Geschäft nicht machen, machen es andere!“ Auf diese Logik habe er sich aber nicht eingelassen, gewisse Sachen waren für ihn einfach nicht mit dem Anstand zu vereinbaren. Das fehlt heute. Sind Sie sicher, daß das kein Mythos ist? Otte: Ja, die Sitten haben sich wirklich gewandelt. Noch bis in die siebziger Jahre etwa haben in Hamburg Reeder Schiffe per Handschlag in Auftrag gegeben! Eine Debatte über Moral könnte jetzt durchaus Bewußtsein schaffen und langfristig zu gewissen Veränderungen führen. Eine neue Moral mit dem alten Personal? Die Bundesregierung etwa hat in der Vergangenheit den Derivate-Handel kräftig unterstützt. Otte: Und das, obwohl es sich dabei um die „finanziellen Massenvernichtungswaffen“ der Neuzeit handelt, wie der Investment-Experte Warren Buffett schon 2002 warnte. Zum Glück denkt die Politik jetzt um. Finanzprodukte wie diese gehören zumindest für Privatanleger verboten! Da bin ich im übrigen einer Meinung mit Michael Rogowski, dem früheren BDI-Präsidenten. Und dennoch vertrauen Sie der Bundesregierung, den Weg aus der Krise zu meistern? Otte: Nach den jetzt getroffenen Maßnahmen zu urteilen, würde ich gute Noten vergeben. Die Spareinlagen zu sichern, den Banken zu helfen etc., also die Kettenreaktion zu unterbrechen — das ist schon richtig. Während die Bundesregierung bereit war, blindlings der Hypo Real Estate aus der Patsche zu helfen, forderte sogar Ex-Deutsche Bank-Chef Hilmar Kopper Verstaatlichungen. Otte: Zwar ist Verstaatlichung kein Allheilmittel, wie man am Beispiel der Sachsen LB sieht, aber ich stimme Kopper zu. Wenn schon die Allgemeinheit zahlt, dann sollte sie auch die Kontrolle übernehmen. Die Kanzlerin aber war bereit, das Geld der Steuerzahler ohne Gegenleistung auszugeben. Otte: Ein berechtigter Einwand. Die Maßnahmen der Bundesregierung gehen in die richtige Richtung, aber es stimmt schon, sie dürften ruhig ein bißchen forscher sein. Libertäre Kritiker meinen, die Krise sei keine Folge von zu wenig sozialer Marktwirtschaft, sondern entspringe dem Umstand, daß vor lauter „Sozialismus“ keine freie Marktwirtschaft mehr geherrscht habe. Otte: Tut mir leid, aber von dieser These halte ich nichts. Ich zitiere den US-Ökonomen John Galbraith: „Das Interesse eines Großteils der Finanzbranche für die Allgemeinheit ist nicht etwa gering — es ist nahezu nicht vorhanden.“ Das darf man nicht vergessen. In unserem Leben muß jeder Rasenmäher den TÜV bestehen, nur bei brisanten Angelegenheiten wie Finanzprodukten meinen wir, den Dingen freien Lauf lassen zu müssen? Trotz der Schnellebigkeit unserer Zeit glaube ich an die Gestaltungskraft der Politik und die Macht der Moral. Dafür lohnt es sich, sich einzusetzen.   Prof. Dr. Max Otte: Bereits 2006 warnte der Finanzexperte in seinem Buch „Der Crash kommt. Die neue Wirtschaftskrise und wie Sie sich darauf vorbereiten“ (Econ), daß ein großer Krach kurz bevorstehe.  Otte ist Professor für allgemeine und internationale Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Worms, Gründer des Instituts für Vermögensentwicklung in Köln (www.privatinvestor.de) sowie Präsident des Verwaltungsrats der Privatinvestor Verwaltungs AG Herdern in der Schweiz (www.privatinvestor.ch). Geboren 1964 in Plettenberg im Sauerland, studierte er in Princeton bei Ben Bernanke, heute Präsident der US-Notenbank. Otte veröffentlichte zahlreiche Bücher und Zeitungsbeiträge, unter anderen in der Times, Welt, FAZ und der Financial Times Deutschland. Außerdem kommentiert er regelmäßig in Rundfunk und Fernsehen, etwa auf N24, n-tv oder Bloomberg.tv.

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