Freiherr von Aretin, am 15. November wäre Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg hundert Jahre alt geworden. Wird dieser Tag in Deutschland angemessen begangen werden?
Aretin: Das würde ich mir wünschen, ich befürchte aber, es wird wie jedes Jahr am 20. Juli sein: Verlegenheitsfeierlichkeiten, weil offensichtlich niemand recht weiß, was mit Stauffenberg anzufangen ist. Denn tatsächlich wird er doch lediglich deshalb von vielen heute so geschätzt, weil in unseren Medien signalisiert wird, daß er eine hochzuschätzende Person ist. Nicht etwa weil die Leute ganz persönlich etwas mit ihm und dem militärischen Widerstand gegen Hitler anfangen können – denn die meisten haben doch keine Ahnung, um was es damals eigentlich ging. Man könnte also formulieren, Stauffenberg wird geschätzt, aber nicht geliebt.
Was ist falsch gelaufen, daß für diese Männer unser Herz nicht schlägt?
Aretin: Der wesentliche Grund ist wohl, daß Stauffenberg und dem Widerstand der Erfolg verwehrt blieb.
Es gibt allerdings zahlreiche Beispiele, in denen historische Niederlagen dennoch zum nationalen Mythos wurden, zum Beispiel die Schlacht auf dem Amselfeld 1389.
Aretin: Das ist nicht vergleichbar, denn die Schlacht auf dem Amselfeld war für die Serben über Jahrhunderte ein Symbol ihrer nationalen Selbstbehauptung. Diese Bedeutung hat der 20. Juli für uns heute nicht.
Warum nicht?
Aretin: Die Voraussetzung dafür wäre, daß wir damals und heute die Besatzungszeit als eine Zeit der Gefährdung der deutschen Nation ansähen.
Zentrales Motiv für Stauffenberg war die Rettung des Reiches, und zwar nicht nur vor Hitler, sondern ebenso vor den Alliierten. Vermutlich hat er also eine Besetzung Deutschlands genauso angesehen.
Aretin: Dennoch hat sich im historischen Erleben zumindest der Westdeutschen die Besatzungszeit nicht als eine solche dargestellt. Unterm Strich haben die Deutschen diese Zeit als Epoche des Friedens, des Aufbaus und schließlich des Wohlstands und der politischen Stabilität erlebt.
„Stauffenberg hatte zwei Gegner: Hitler – und Casablanca!“
Der Widerstands-Historiker und Stauffenberg-Biograph Eberhard Zeller schreibt in seinem Buch „Geist der Freiheit. Der 20. Juli“: „Würden die Männer des 20. Juli zurückkehren, sie wären voll Scham, wenn sie uns so wirtschaftlich und so privat sähen.“
Aretin: Das mag zutreffend, aber gleichwohl ist die deutsche Nachkriegsgeschichte nun einmal verlaufen, wie sie verlaufen ist. Diese Bemerkung Zellers verdeutlicht aber natürlich die uneingestandene Kluft, die heute zwischen Stauffenberg und den Männern des 20. Juli einerseits und dem heutigen Deutschland andererseits besteht. Was wiederum erklärt, warum wir uns zwar jedes Jahr am 20. Juli in verehrender Pose vor Stauffenberg verneigen, uns aber außer dem Attentat auf Hitler nichts zum Widerstand einfällt. Denn die heutigen Aussagen darüber, was mit dem Widerstand eigentlich gemeint war, sind doch meist sehr beliebig.
Was war „eigentlich“ gemeint?
Aretin: Was heute meist peinlich verschwiegen wird, ist der Umstand, daß Stauffenberg und der Widerstand den Putsch eben nicht für eine parlamentarische Demokratie unternommen haben. Die einzigen, die das thematisieren, sind meist jene, die dies gleichzeitig auch instrumentalisieren: nämlich, um den 20. Juli abzuwerten. Dabei ist das eine ebenso törichte Verleumdung wie etwa die immer wieder gern erhobene Behauptung, die Exekution der Juden habe für den Widerstand als Motiv keine große Rolle gespielt. Man sollte sich also lieber einmal fragen, warum wohl hätte sich Stauffenberg ausgerechnet für eine parlamentarische Demokratie einsetzen sollen, nachdem er Jahre zuvor miterlebte, wohin die Weimarer Demokratie geführt hatte, nämlich zu Hitler. Fast alle Diktaturen der damaligen Zeit in Europa waren aus parlamentarischen Demokratien entstanden. Welche politischen Ziele Stauffenberg dagegen konkret vorschwebten, ist unklar, weil er sich darüber nicht detailliert geäußert hat. Sicher ist nur, daß er der Auffassung war, das ganze deutsche Volk müsse an der neuen Ordnung beteiligt werden.
Am 20. Juli 1944 verhafteten Einheiten der Wehrmacht auf Stauffenbergs Veranlassung Partei- und SS-Mitglieder. Heute wirft man ihm vor, daß er zunächst eine Militärdiktatur zu errichten suchte.
Aretin: Die aber zunächst auch absolut notwendig gewesen wäre, denn viele Deutsche hätten das Attentat auf Hitler und die folgende Machtübernahme als einen „zweiten Dolchstoß“ betrachtet und schließlich den 20. Juli für die damals ja schon unausweichliche militärische Niederlage verantwortlich gemacht. Auf Beliebtheit hätte sich die neue Ordnung also zu Beginn mit Sicherheit nicht stützen können. Zumindest bis zur öffentlichen Aufdeckung der unglaublichen Verbrechen der Nazis wäre alleine die Wehrmacht der Garant für die Rückkehr Deutschlands zu Rechtsstaatlichkeit und schließlich zu einer eigenständigen deutsche Form von demokratischer Ordnung gewesen. Vorausgesetzt natürlich, es wäre dem 20. Juli gelungen, den nach Hitlers Beseitigung mit Sicherheit ausgebrochenen Bürgerkrieg zu gewinnen und wie geplant – was aber utopisch war – die Alliierten aus Deutschland herauszuhalten.
Trotz der offiziellen Ehrung Stauffenbergs begrüßen tatsächlich nicht wenige Angehörige des Establishments heute klammheimlich sein Scheitern, weil sie die totale Niederlage Deutschlands als Voraussetzung für die Umerziehung nach dem Krieg ansehen. Die ehemalige FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher etwa hat sich so geäußert.
Aretin: Und so ist es dann ja auch gekommen, denn von den politischen Vorstellungen des 20. Juli ist nichts, aber auch gar nichts, von den Alliierten übernommen worden. Und auch die Modelle, die Überlebende des 20. Juli unmittelbar nach dem Krieg entwickelten, wurden von den Alliierten unterdrückt. Die waren für solche Initiativen keineswegs dankbar, weil sie ihre eigenen Vorstellungen durchsetzen wollten.
„Ich war von seiner Ausstrahlung und Persönlichkeit beeindruckt“
Diese Aspekte finden bei den offiziellen Ehrungen des 20. Juli heute keine Erwähnung.
Aretin: Tja, vieles war eben ganz anders als heute bevorzugt dargestellt. Ich bin zum Beispiel zu der Auffassung gelangt, daß das Kriegsziel der Alliierten nicht die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus war, sondern die Zerschlagung der deutschen Wehrmacht. Klar: 25 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs stand ihnen das deutsche Heer von neuem, und zudem inzwischen als die damals beste Armee der Welt, gegenüber. Dafür hatten sie Versailles nicht gemacht. Für sie war die Zerstörung der Wehrmacht und der deutschen Militärtradition neben dem Nationalsozialismus ein gleichrangiges Ziel. Man muß sich im klaren sein, daß Stauffenberg und der 20. Juli nicht nur einen Feind – Hitler – sahen, sondern noch einen zweiten: nämlich Casablanca. Dort hatten sich bekanntlich Churchill und Roosevelt 1943 auf die Formel von der „bedingungslosen Kapitulation“ Deutschlands festgelegt. Um Casablanca abzuwenden, hofften Stauffenberg und seine Freunde, mit der Beseitigung Hitlers ein Partner für die Alliierten zu werden. Ich habe nach dem Krieg einmal ein Gespräch mit Hans Bernd Gisevius geführt, im Krieg Agent der Abwehr und Mitverschwörer des 20. Juli. Er berichtete mir, daß Stauffenberg ihm gegenüber als Grund für sein Handeln geäußert habe, es gehe darum, „die Armee zu retten“. Das aber war wohl eine Illusion.
Wir leben also heute in einer Ordnung, die ursprünglich nicht unsere eigene ist, sondern die wir uns erst im Laufe der Nachkriegsgeschichte angeeignet haben, während Stauffenberg für einen alternativen, eigenständigen – um ein Wort von Stefan Heym zu entlehnen – einen Weg im „aufrechten Gang“ zum demokratischen Nationalstaat steht?
Aretin: Die Westalliierten hatten Glück, daß es bei dieser Politik schließlich dennoch – Gott sei Dank – etwas geworden ist mit der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Heute funktioniert diese gut und ist im Volk völlig akzeptiert.
Sie haben 1943 Graf Stauffenberg persönlich kennengelernt.
Aretin: Damals quartierte sich seine Frau, Nina von Stauffenberg, in einer Villa meiner Eltern in München-Nymphenburg ein – ich weiß nicht mehr, wieso ausgerechnet bei uns. In München war sie, weil ihr Mann nach seiner schweren Verwundung an der Front in Afrika hier ins Lazarett gekommen war. Mein Vater schlug mir vor, Stauffenberg doch einmal am Krankenbett zu besuchen, weil er ein so interessanter Mann sei. Um ehrlich zu sein, ich habe Stauffenberg dann zunächst für einen Kommißkopp gehalten, weil er mich dafür kritisierte, daß ich – zwar auf Urlaub, aber Soldat – in Zivil herumlief. Das war wohl eben sein von mir damals nicht recht verstandenes Soldatenethos. Damit war unser Gespräch allerdings schon auf einem schiefen Gleis. Aber obwohl wir nach diesem verunglückten Beginn nicht mehr recht zueinanderfanden, muß ich sagen, daß mich die spürbare Ausstrahlung seiner Persönlichkeit beeindruckt hat. Ich mußte meinem Vater mit seiner Einschätzung recht geben.
Hat Stauffenberg Ihren Vater in Sachen 20. Juli später angesprochen?`
Aretin: Das hat er, aber der erklärte ihm, daß er dafür nicht in Frage komme, da er unter Gestapo-Beobachtung stehe. Denn mein Vater war als Hitler-Gegner bekannt. Er war vor 1933 innenpolitischer Leiter der Münchner Neuesten Nachrichten und hatte als überzeugter Konservativer und Monarchist gegen Hitler geschrieben und sogar einmal eine Beleidigungsklage gegen diesen angestrengt und gewonnen. Man kann sagen, von da an wurde er von Adolf Hitler als persönlicher Feind angesehen. Als mein Vater dann 1933 nach Dachau kam, soll Hitler gesagt haben: „Und der braucht auch gar nicht mehr rauskommen.“ Interessant ist, daß er dann doch freikam, und zwar weil sich ausgerechnet der NS-Reichsstatthalter in Bayern, Franz Ritter von Epp, der ein persönlicher früherer Freund meines Vaters war, unermüdlich für ihn einsetzte. Diese Umstände haben Stauffenberg dann natürlich überzeugt, auf meinen Vater doch besser zu verzichten. Dennoch hat meinen Vater der Kontakt zu Stauffenberg natürlich gefährdet, und es ist für mich erstaunlich, daß er den 20. Juli 1944 unbehelligt überstanden hat.
„Sie starben für Deutschland – ein Opfergang für die Nation“
Die Erhebung des 20. Juli hat ja nicht nur Mitwisser gefährdet, sondern auch Unbeteiligte, einige gar zu Tode gebracht. Etwa Offiziere und Adjutanten in der Lagebaracke der Wolfsschanze. Ist das nicht eine schwere moralische Hypothek für die Person Stauffenbergs?
Aretin: Ich glaube manchmal, nicht nur Henning von Tresckow, sondern auch die anderen Verschwörer haben gar nicht so sehr an den praktischen Erfolg geglaubt, sondern waren sich bewußt, daß es sich im Grunde um eine symbolische Tat handelte. Sie waren bereit, sich zu opfern. Der 20. Juli war also mehr ein Opfergang für die Nation als ein politischer Putsch. Ein Opfergang, um dem deutschen Volk ein moralisches Weiterleben nach der Katastrophe des Nationalsozialismus zu ermöglichen. Sie wollten der Welt beweisen, daß es in Deutschland Gegner des NS-Regimes gab, die bereit waren, ihr Leben einzusetzen. Mit dieser Tat wollten sie eine moralische Verantwortung des gesamten deutschen Volkes unmöglich machen. Die Alliierten haben die These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes auch bald fallenlassen. Für dieses Ziel nahmen Stauffenberg und seine Freunde weder Rücksicht auf sich, noch konnten sie Rücksicht auf andere nehmen.
Mit einem Pistolen- statt einem Bombenattentat hätte Stauffenberg Unbeteiligte schonen können.
Aretin: Wer so etwas einwendet, hat sich offenbar nicht richtig mit der Geschichte des 20. Juli beschäftigt. Es gab zunächst durchaus auch Pläne für ein Pistolenattentat, die wurden aber letztlich als zu unsicher verworfen. Nur eine Bombe konnte sicherstellen, daß Hitler wirklich getötet werden würde. Ein Schütze hätte die Nerven verlieren oder man hätte ihm in den Arm fallen können. Vielleicht wäre der Schuß fehlgegangen, oder an einer Rippe abgeprallt. Hitler wäre dann nur verwundet und nicht getötet worden. Doch sein Tod war die unbedingte Voraussetzung für alles andere! Nein, der militärische Sachverstand besagte, daß es eine Bombe sein mußte. Es ist natürlich eine Ironie des Schicksals, daß es dann damit auch nicht geklappt hat. Der Fehler war bekanntlich, daß der schwer kriegsversehrte Stauffenberg mit seinen verblieben drei Fingern und unter Zeitdruck eine der beiden Ladungen nicht scharf machen konnte. Auch eine Pistole hätte er übrigens nicht sicher bedienen können. Und es gab noch einen zweiten Grund für die Wahl einer Bombe: Da der Attentäter gleichzeitig auch der Organisator des „Walküre“-Aufstandes in Berlin war, war sein Überleben und seine rasche Rückkehr in die Reichshauptstadt unabdingbar. Es war vielleicht ein Fehler, beide Aufgaben in der Person Oberst Stauffenbergs zu vereinen, aber er war nun einmal zu dieser Zeit der einzige von den Verschwörern, der Zugang zu Adolf Hitler hatte und bereit war, zu handeln. Er war die überragende Persönlichkeit des deutschen Widerstandes, er war der Mann der Tat!
Moritz Schwarz
Prof. Dr. Karl Otmar Freiherr von Aretin: Der renommierte Historiker ist Sohn des Hitler-Gegners Erwein Freiherr von Aretin und verheiratet mit Henning von Tresckows Tochter Ruth. 1984 veröffentlichte er den Band „Opposition gegen Hitler. Deutscher Widerstand 1933 bis 1945“ im Verlag Wolf Jobst Siedler. Von 1968 bis 1994 war er Direktor des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz. Geboren wurde er 1923 in München