Herr Höhne, Sie waren 36 Jahre leitender Redakteur beim „Spiegel“. Mit „Der Orden unter dem Totenkopf“ haben Sie eines der Standardwerke zur Geschichte der SS geschrieben, als Journalist aber auch das moralische und politische Wirken Günter Grass‘, der jetzt seinen Dienst bei der Waffen-SS bekannt hat, bis heute miterlebt. Höhne: Skandalös ist nicht, daß Grass bei der Waffen-SS war, sondern daß er dies so lange verschwiegen hat. Und auch das ist an sich noch kein Skandal, sondern nur deshalb weil er sich über Jahre und Jahrzehnte als „Moralpapst“ in Fragen deutscher Schuld und Verantwortung aufgeführt hat. Von ihm stammen Verdikte wie: „Wer schweigt, lügt.“ So wandelt sich die gesellschaftspolitische Biographie des Günter Grass also am Ende zur Groteske. Die Schriftstellerin Juli Zeh, Jahrgang 1974, – ein Beispiel für die Haltung der jüngeren Generation – hält die Kritik an Grass für „inszeniert und hochgekocht“. Sie „nervt dieser Anspruch und dieses Beleidigtsein darüber, daß Grass es wagt, so eine Entscheidung für sich selbst zu treffen“. Höhne: Die Dame hat offenbar vergessen, daß Grass in seinem moralischen Anspruch genau diese Freiheit anderen stets abgesprochen hat. Den jüngeren Semestern ist anscheinend gar nicht klar, wie sehr sich Grass als personifiziertes Gewissen aufgespielt hat, wie hartherzig seine Urteile waren, welches Gewicht seine Stimme hatte und wie erbarmungslos tribunalisierend gegenüber der Erlebnisgeneration die Atmosphäre in der Bundesrepublik lange Zeit war. Grass hat sein eigenes Feld mit der „Schuld“ der anderen bewirtschaftet. Und er hat dabei auch vor den Nachgeborenen nicht haltgemacht: Im Namen seines damaligen „Mitläufertums“ hat er eine deutsche Kollektivschuld konstruiert, die allen Deutschen 1989/90 zum Beispiel die deutsche Einheit moralisch verbieten sollte. Absurd! Man muß es einmal deutlich sagen: Grass hat nie „aufgearbeitet“, sondern schlimmste Kollektivschuldhuberei zum Schaden unseres Landes betrieben. Für eine wirklich moralische Persönlichkeit fehlen ihm wichtige Voraussetzungen wie zum Beispiel Demut. Wo war Grass etwa, als Leute wie Franz Schönhuber oder der WDR-Intendant Theo M. Loch ihren Hut nehmen mußten wegen ihrer Zugehörigkeit zur Waffen-SS? Grass hätte damals erklären, vermitteln können. Statt dessen hat er sich 1985 über Kohl in Bitburg echauffiert, wo ebensogut er hätte liegen können oder vielleicht tatsächlich ein zweiter Günter Grass liegt. Man fragt sich, hat der Mann nicht einmal gedacht: „Was habe ich für ein Glück gehabt, daß nicht ich zu diesen 49 Toten gehöre!“ Grass erweckt im Interview mit der „FAZ“ den Eindruck, sein Bekenntnis habe moralische Gründe: „Das hat mich bedrückt … Das mußte raus, endlich …“ Höhne: Das ist natürlich nur eine Vermutung, aber ich tippe, Grass hat vielmehr einen Wink bekommen. Manche Kritiker vermuten eher einen Vermarktungstrick für „Beim Häuten der Zwiebel“ . Höhne: Mag sein, aber das glaube ich nicht. Grass‘ Äußerung im Interview mit Ulrich Wickert, er wolle zur Angelegenheit nichts mehr sagen, da er in seinem Buch alles dargelegt habe und mit jeder Äußerung nur hinter das dort Erklärte zurückfalle, klingt doch sehr nach der Aufforderung: Kauft mein Buch! Höhne: Dennoch, mir ist das zu billig. Ich frage mich, ob da nicht etwas anders im Spiel ist: Drohte ihm eine Erpreßung? Stand eine Aufdeckung aus Stasi-Akten bevor? Vielleicht hat auch keine unmittelbare „Bedrohung“ bestanden, vielleicht hat er auch nur mitbekommen, „da recherchiert jemand meine Kriegeserlebenisse“, und sich sicherheitshalber gesagt: „Jetzt aber schnell, Flucht nach vorn!“ Waren es vielleicht die Nachforschungen des Berliner Politologen Rolf Köpcke, die Grass dazu bewogen haben? Sie haben als Zeitgeschichts-Journalist auch zum Thema Geheimdienste gearbeitet und dazu Bücher veröffentlicht. Glauben Sie, die Stasi hat von Grass‘ Dienst bei der Waffen-SS gewußt? Höhne: Natürlich kenne auch ich die Akte nicht, schließlich hat Grass die Einsichtnahme durch Intervention bei der Birthler-Behörde verhindert. Ich bin aber sicher, daß die Stasi zumindest das wußte, was jetzt bei der Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin dokumentiert ist: Laut Kriegesgefangenenunterlagen der US-Armee war SS-Panzerschütze Grass in der Funktion eines Ladeschützen bei der 10. SS-Panzerdivision Frundsberg eingesetzt. Nachdem er schließlich südlich von Cottbus, im Raum Senftenberg-Spremberg Ende April bei Kämpfen am Oberschenkel verwundet und ins Lazarett abtransportiert worden war, geriet er am 8. Mai 1945 im böhmischen Marienbad in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Kritiker meinen, unter dem Eindruck seiner „moralischen Implosion“ müsse man sein Werk neu lesen. Sollte die Stasi tatsächlich über Grass Bescheid gewußt haben, müßte dann auch sein politisches Wirken in neuem Lichte betrachtet werden? Höhne: Nein, Grass wurde von der Stasi zwar sicherlich ausgeforscht, aber nicht gesteuert. Sein Eintreten für die SPD, wie es für die DDR von Vorteil war, oder seine Gegnerschaft zur deutschen Wiedervereinigung entspringen sicher nicht einer Beeinflussung aus Ost-Berlin. Nein, so ist der Mann tatsächlich gestrickt. Grass stellt dar, er habe sich unversehens bei der Waffen-SS wiedergefunden. Der Historiker Hannes Heer zweifelt an dieser Darstellung: „Daß man von der Wehrmacht, ohne es zu erfahren, zur Waffen-SS durchgereicht wurde, ist mir neu.“ Höhne: Richtig ist, daß die Wehrmacht darüber entschied, wer zur Waffen-SS kam. Die Namen der Freiwilligen hatte die SS an die Wehrmacht weiterzugeben, und die verfuhr die meiste Zeit des Krieges nach der Faustregel, ein Drittel zu bewilligen. Grass gibt an, sich nicht freiwillig zur Waffen-SS gemeldet zu haben, er sei gezogen worden. Höhne: Man muß wissen, daß auf der Führungsebene der Wehrmacht die Waffen-SS als unliebsame Konkurrenz betrachtet, und daher, was etwa den Nachwuchs anging, möglichst kurz gehalten wurde. Deshalb hat sich die Waffen-SS tummeln müssen und ihre Werber schließlich auch zur Hitlerjugend und zum Reichsarbeitsdienst (RAD) geschickt. Wer hier unterschrieb, der wurde dann von der Waffen-SS bei der Wehrmacht, die allein befugt war, Soldaten einzuziehen, als Rekrut beantragt. Grass, damals RAD-Mann, muß daher eigentlich irgendwann einmal etwas unterschrieben haben, um auf die Liste der Waffen-SS zu kommen. Dann hätte Grass nicht die volle Wahrheit gesagt. Die Frage ist, war das, als er am 10. November 1944 einrückte, immer noch so? Höhne: Das ist das Problem, denn seit dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 begann quasi die Endphase des Krieges, in der das Chaos ständig zunahm. In dieser Zeit galten die bis dahin üblichen Regeln nicht mehr unbedingt. Es ist auch möglich, daß Grass die Wahrheit sagt. Allerdings fällt auf, daß er in seinem Buch von einem Besuch in einem „Rekrutierungsbüro“ der Waffen-SS spricht. Was hat er dort zu suchen, wenn er sich nicht freiwillig gemeldet hat? Das paßt nicht! Es ist ärgerlich, daß es die FAZ in ihrem Interview, mit dem die ganze Debatte vor zwei Wochen begonnen hat, versäumt hat, hier genauer nachzufragen, sondern brav alles schluckte, was Grass ihr erzählte. Grass will sich „mit fünfzehn wohl“ freiwillig zur U-Boot-Waffe gemeldet zu haben. Höhne: Da kursieren zwei Versionen: Erstens, Grass soll nicht genommen worden sein, weil die Marine keine Rekruten mehr annahm. Zweitens, er sei noch zu jung gewesen. Letzteres wird es gewesen sein. Was die U-Boot-Waffen angeht: Diese galt, ebenso wie die Waffen-SS, als Elitetruppe und dank des Großadmiral Karl Dönitz, der Hitler treu ergeben war, im Vergleich zum „reaktionären“ Heer als vergleichsweise „nationalsozialistisch“. Ich würde Grass daraus keinen Vorwurf machen, aber man könnte auch sagen, im Grunde war Grass am Ende dort, wohin er sich gemeldet hatte: bei einer „nationalsozialistischen“ Elitetruppe. Während Grass sich im Buch als verführter „Mitläufer“ präsentiert, gewinnt man im „FAZ“-Interview eher den Eindruck, als sei er ein braver Deserteur im Geiste gewesen, wenn er angibt, sich gefragt zu haben: „Wie komme ich darum herum?“ Höhne: Grass bezieht das auf seine Ausbildung bei der Truppe. Er berichtet, er habe sich selbst Gelbsucht beigebracht, um dem Schliff auf dem Kasernenhof zu entgehen. Er bringt das als Antwort auf die Interviewfrage nach seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS, so daß leicht der falsche Eindruck entsteht, hier komme seine Haltung zum Krieg generell zum Ausdruck. Wenn Sie sein Verhalten in den Interviews der letzten Tage verfolgen, so versucht er sich auf diese Weise immer wieder ins milde Licht zu rücken, ohne dabei etwas sachlich Falsches zu sagen. Deshalb ist es ja so ärgerlich, daß die FAZ ihn so sanft angefaßt hat, ebenso wie Herr Wickert im ersten Fernseh-Interview, daß Grass seit seinem Eingeständnis gegeben hat. Dieses nur Zuhören der Interviewer, statt scharf nachzufragen, leistet Grass‘ Strategie Vorschub, Genauigkeit und Redlichkeit durch „Nachdenklichkeit“ und versonnenes Erinnern zu ersetzen. Achten Sie darauf, wie Grass seine Sätze oft scheinbar konkret beginnt, doch bis Satzende stets ins Vage abgedriftet ist. Ich bin an sich weit davon entfernt, einen Achtzigjährigen wegen ungenauer Erinnerungen zu tadeln. Im Gegenteil, ich habe Verständnis: Grass verhält sich menschlich verständlich. Ich erlaube mir allerdings, einmal die Maßstäbe anzulegen, die er sonst bei anderen angelegt hat. Und da besteht er nicht! Bis zuletzt habe er an den Endsieg der Wehrmacht und bis zum Nürnberger Prozeß nicht an den Holocaust der Nationalsozialisten geglaubt, so Grass. Hat er diese Jugenderfahrung bei seinem späteren moralischen Auftreten ausreichend in Rechnung gestellt? Höhne: Überhaupt nicht. Im Gegensatz zu vielen moralisch auftretenden Angehörigen der jüngeren Generation, die aufgrund der inzwischen üblichen einseitigen Vermittlung der Geschichte „in aller Unschuld“ mit – wie ich finde – oftmals einer unmenschlichen Härte über die Vätergeneration urteilten, hätte Grass wissen müssen, was es bedeutet hat, in der damaligen Zeit zu leben. Ich möchte betonen, daß ich Grass als Autor stets geschätzt habe, aber sein politisches und moralisches Engagement waren mir dagegen immer unsympathisch, weil ich Leute nicht mag, die einseitig sind, die mit Schablonen arbeiten. Denken Sie etwa daran, was er über Adenauer gesagt hat. Die „grauenhafte“ Adenauer-Zeit, so Grass, sei geprägt gewesen von „Lügen“, „Mief“ und „einer Art Spießigkeit, die es noch nicht einmal bei den Nazis gegeben hat“. Eine „Restaura-tion“ diagnostizierte er: „Es lief wieder in die alten Gleise.“ Höhne: Adenauer war immerhin ein mutiger Resistenzler gegen die Nazis, Grass dagegen ein gläubiger Anhänger des Regimes. Woher nimmt also Grass seinen Hochmut? Wie kommt er dazu, mit seinen Formulierungen „noch spießiger als die Nazis“ und „Rückkehr in die alten Gleise“ Adenauer in den Dunstkreis der Nazis zu rücken? Genau das, was Grass so unverschämt als NS-nah diffamiert, war das, was Adenauer von den Nazis getrennt hat, die ihn ja als Reaktionär als Oberbürgermeister von Köln abgesetzt hatten. Und gerade Grass Adenauer-Feindliche Position ist es, die viel näher an den Nazis dran ist! Im Grunde geht es nicht um die Person Günter Grass, sondern um die zentrale Funktion, die er lange Zeit im Moralbetrieb unserer Öffentlichkeit erfüllt hat. Ist es nicht unredlich, nun nur Grass zu „prügeln“, ist er doch lediglich Teil eines Moralsystems, das von so vielen aufgebaut und zum eigenen Nutzen betrieben wird? Höhne: Das erklärt wohl auch ein Teil der Enttäuschung über Grass von seiten seiner Anhänger. Viele von ihnen habe ihre moralische Stellung auf das von ihm mitetablierte System gebaut. Die Lücke, die sein Zusammenbruch jetzt ins Fundament reißt, gefährdet die Position aller. Viele fühlten sich verraten, weniger moralisch als vielmehr ganz praktisch. Ich befürchte nur, so weit reichen die Schockwellen dieser Erschütterung letztlich doch nicht. Die „moralische“ Instanz Grass wird vielleicht vergehen, aber die geistige Situation, die selbstverursachten Probleme der geistigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unseres Landes werden leider bleiben. Heinz Höhne : Der Publizist und studierte Journalist war bis 1991 leitender Redakteur beim Spiegel. Nach seinem Redaktionseintritt 1955 leitete er zunächst das Auslandsressorts, dann die Serienredaktion. Er verfaßte zahlreiche Bücher zum Dritten Reich, darunter auch das Standardwerk: „Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS“ (C. Bertelsmann, 1967), schrieb aber auch zum Widerstand gegen Hitler, etwa „Canaris. Patriot im Zwielicht“ (C. Bertelsmann, 1976). Geboren wurde der Sohn hugenottischer Eltern 1926 in Berlin. Wie Günter Grass wurde er Ende 1944 in Sachsen eingezogen, diente als Panzerpionier aber bei der Wehrmacht und wurde im Februar 1945 nach Dänemark verlegt. Foto: Von Grass heftig kritisiert besuchen Bundeskanzler Kohl (mit dem ehemaligen Bundeswehr-General Johannes Steinhoff) und der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan (r.) 1985 den Soldatenfriedhof von Bitburg, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS bestattet sind: „Ebensogut hätte doch Günter Grass dort liegen können“ weitere Interview-Partner der JF