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„Schleunigst reagieren!“

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„Schleunigst reagieren!“

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Herr Professor Huinink, Deutschland hat nach der jüngsten Verlautbarung des Statistischen Bundesamtes bereits das 32. Jahr in Folge – diesmal mit 715.000 Geburten gegenüber 858.000 Todesfällen im Jahre 2003 – ein Geburtendefizit zu verbuchen. Huinink: Einen „Überschuß an Gestorbenen“ haben wir seit vielen Jahren. Die Ursachen sind das Absinken der Geburtenneigung seit Mitte der sechziger Jahre sowie der ständige Anstieg des Alters bei der Familiengründung, was ebenfalls auf die Geburtenzahlen eines Jahres drückt. Nun mag der eine oder andere annehmen, ein Defizit von 143.000 Geburten sei bei einem Volk von etwa 80 Millionen Menschen nicht so bedeutsam. Aber wenn man das über die Jahre addiert, dann kommt da doch was zusammen. Der springende Punkt ist dabei, daß diese Zahlen eine Entwicklung markieren, die sich in naher Zukunft drastisch verschärfen wird. Denn in den kommenden Jahrzehnten wird da quasi eine „Implosionsspirale“ abbrennen: Die geburtenschwachen Jahrgänge bringen natürlich wiederum noch geburtenschwächere Jahrgänge hervor. Können Sie konkrete Zahlen nennen? Huinink: Das ist schwierig, weil das auch vom Grad und der Altersstruktur der Zuwanderung abhängt. Das Statistische Bundesamt schätzt die Bevölkerung der Bundesrepublik im Jahr 2050 auf 75 Millionen bei einer jährliche Nettozuwanderung von 200.000 Menschen. Ein Drittel der Bevölkerung wird dann über 60 Jahre alt sein. Können wir denn dieser Entwicklung einfach durch Zuwanderung entgegenwirken? Huinink: Wir werden das Problem der Überalterung durch Zuwanderung nicht lösen können, es sei denn um den Preis einer horrenden Zahl an Einwanderern oder einer sehr jungen Zuwandererpopulation – das sind keine realistischen Perspektiven. Was werden die konkreten Folgen des Bevölkerungsschwunds sein? Huinink: Einerseits sollte man die Folgen nicht unterschätzen, was leider offenbar immer noch der Fall ist, wenn man die Reaktion der Politik betrachtet. Dabei ist der Politik schon seit über zehn Jahren bekannt, wohin die Reise geht, dennoch hat sie unverantwortlicherweise kaum darauf reagiert. Andererseits sollte man die Folgen nicht dramatisieren – diese Ermahnung geht an die Adresse der Presse, die das Thema nur allzu gern sensationsheischend aufbauscht. Fakt ist – nun einmal vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesprochen -, daß die Auswirkungen dieser Entwicklung noch nicht hinreichend untersucht sind. Es ist doch nicht nur unser bisheriges Rentensystem, das wegen der demographischen Entwicklung bald vor dem Kollaps steht, wie derzeit überall zu lesen ist. Welche Gefahren drohen noch? Huinink: Es kommen eine ganze Reihe von Problemen auf uns zu, nicht nur was die sozialen Systeme angeht. So geht man zum Beispiel auch davon aus, daß eine überalterte Gesellschaft, wie sie uns in Zukunft droht, nicht mehr so flexibel und innovativ sein wird, wie das die globale Herausforderung der Zukunft erfordert. Ein großer Nachteil wird das Schrumpfen unseres Binnenmarktes sein, wenn die Deutschen zahlenmäßig in relevanter Größe abnehmen. Wir müssen uns allerdings sowieso von dem Gedanken eines dauerhaft hohen Wachstums verabschieden. Derzeit herrscht ja immer noch die Vorstellung vor, unsere Volkswirtschaft würde nach einem „Tal der Tränen“ wieder in eine Phase der Prosperität mit hohen Wachstumsraten eintreten, wie sie vor Beginn der Krise in den neunziger Jahren geherrscht hat. Einige Kritiker verweisen darauf, daß der Bevölkerungsschwund in einem überbevölkerten Land wie der Bundesrepublik Deutschland, deren Umwelt und Arbeitsmarkt durch die vielen Menschen stark belastet ist, eine wohltuende Wirkung hätte. Unkonventionelle Perspektive oder unverantwortliche Verharmlosung des Problems? Huinink: Das sind einfach zwei paar Stiefel: Einerseits kommen durch den Bevölkerungsschwund enorme Probleme auf uns zu, andererseits wird er in einigen Bereichen auch zu Entlastungen führen: Die Lebensqualität kann durchaus in einigen Feldern steigen, und die Situation auf dem Arbeitsmarkt wird sich sicherlich zunächst entspannen. Allerdings ist das auch eine Frage des zu diesem Zeitpunkt herrschenden Grades an Produktivität und der von der Wirtschaft dann konkret nachgefragten Qualifikationen. Allerdings werden auch solche Verbesserungen voraussichtlich eine Vielzahl weiterer Veränderungen nach sich ziehen, die wir heute noch nicht so recht überblicken können. So wird ein Arbeitskräftemangel zum Beispiel wohl dazu führen, daß künftig auch die Frauen mit Kindern in den alten Bundesländern in erhöhtem Maße berufstätig werden müssen – wie das in den neuen Ländern schon der Fall ist. Das aber wird wiederum den Druck auf die Familienpolitik erhöhen, endlich die Verein­barkeit von Erwerbstätigkeit und Elternschaft zu verbessern. – Andererseits, würden nun als Reaktion auf das Problem jede Menge Kinder geboren, wäre das eine finanzielle Belastung für den Staat, da Kinder ja zunächst einmal kosten, bevor sie als junge Erwachsene berufstätig sind und Steuern und Sozialabgaben zahlen. Sie sehen, die Problematik ist ungeheuer komplex und taugt nicht für einfache Schlußfolgerungen. Die meisten Kritiker warnen allerdings eindeutig vor den katastrophalen Auswirkungen des Bevölkerungsschwunds. Huinink: Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich wage keine absolute Voraussage, denn es ist bei all diesen Prognosen immer auch eine tüchtige Portion Spekulation dabei. Dennoch wundert man sich, daß angesichts der möglichen Konsequenzen des Bevölkerungsschwunds das Thema anläßlich der Veröffentlichung der Zahlen des Statistischen Bundesamtes nicht von allen wichtigen Medien auf Seite eins gebracht wird. Oder empfinden Sie die Berichterstattung als ausreichend? Huinink: Das ist immer eine Frage der Seriosität, mit der das Thema angepackt wird. Grundsätzlich finde ich es außerordentlich wichtig, daß das Problem angesprochen und stärker ins Bewußtsein der Bevölkerung gehoben wird, zumal angesichts der bedrohlichen Lethargie der Politik in dieser Sache. Da ist manchmal schon auch der „mediale Holzhammer“ vonnöten. Statt in Mode-Wellen sollte das Thema aber kontinuierlich in den Medien präsent sein – damit würde sich dann übrigens vermutlich auch eine Versachlichung der Thematik einstellen. Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg scheint wesentlich pessimistischer zu sein als Sie: Er spricht davon, daß die demographische Entwicklung der Deutschen zu einer mehrfachen, tiefgreifenden Spaltung unserer Gesellschaft zu führen droht. Eine Spaltung in Junge und Alte, in Kinderlose und Familien sowie in Deutsche und Ausländer – letztere werden nach seiner Prognose in den Ballungszentren in Zukunft über fünfzig Prozent der Einwohner stellen, was zu Parallelgesellschaften statt zu Integration führen wird. Drohen unter den verschärften sozialen und ökonomischen Verhältnissen der Zukunft diese Antagonisten tatsächlich in verschärfte Opposition zueinander zu geraten? Huinink: Das sind Prognosen, die durchaus Wirklichkeit werden können, wenn Politik und Gesellschaft nicht schleunigst auf die Problemlage reagieren. Das heißt, die Sozialsysteme müssen gerecht umgebaut, und die Anstrengungen zur Integration von Ausländern aller Altersstufen müssen in jeder Hinsicht verstärkt werden. Schließlich sollte Politik und Gesellschaft allen, die eine Familie anstreben, ohne sozial und wirtschaftlich benachteiligt zu werden, dieses ermöglichen, dann wird auch die Kinderzahl steigen und Kinderlosenquote sinken! Der israelische Historiker Martin van Creveld sieht in der Zeitschrift „Sezession“ das Problem gar noch viel tiefer reichen und spricht davon, daß „Europa, vor allem Deutschland, seinen Lebenswillen verloren hat“. Die Menschen hierzulande seien nicht bereit, für ihre Gesellschaft zu kämpfen, geschweige denn „noch Kinder zu bekommen“. Huinink: Tut mir leid, solche Äußerungen kann ich nicht nachvollziehen, denn Eltern bekommen ihre Kinder nicht für die Gesellschaft, Deutschland oder Europa, sondern für sich! Deshalb müssen Gesellschaft und Politik die Rahmenbedingungen schaffen, damit die Menschen mit Kinderwunsch – und das ist eben immer noch die überwältigende Mehrheit der Deutschen – es sich auch leisten können, Kinder zu haben. Natürlich bekommt niemand Kinder „für den Staat“, aber weist diese Beobachtung aus dem Ausland uns nicht darauf hin, daß in Europa, vor allem in Deutschland, eine selbstverständliche Stimmung verlorengegangen ist, die von grundlegender Wichtigkeit ist, nämlich das Selbstverständnis einer sozialen Gemeinschaft, sich selbst zu erhalten? Huinink: Das mag sein, aber ich halte das als eine Erklärung beziehungsweise Handlungsanweisung für zu simpel. Jeder hat wohl schon in seiner Umgebung die beiden Aussagen gehört „In diese Welt kann man keine Kinder setzen“ und „Ist mir doch egal, wenn die Deutschen aussterben“. Leisten solche weitverbreiteten – vermutlich spezifisch deutschen – Einstellungen der Verschärfung des Problems nicht Vorschub? Huinink: Die Aussage „In diese Welt kann man keine Kinder setzen“ deutet nicht darauf hin, daß diese Person kinderfeindlich ist – im Gegenteil! Die Ansprüche an Elternschaft und Familie sind ja gestiegen. Die Antwort darauf muß heißen: Wir müssen also eine Welt schaffen, in die Kinder zu setzen sich wieder lohnt und in der die Menschen darauf vertrauen können, ihrer Verantwortung als Eltern gerecht zu werden. Die Welt ist, wie sie ist – das hält andere Kulturen mitnichten davon ab, Kinder in die Welt zu setzen. Zeigt nicht die Tatsache, daß speziell den Deutschen solche „Argumente“ einleuchten – und auch Sie akzeptieren sie mit Ihrer Antwort ja im Grunde -, daß van Creveld nicht doch recht hat und uns der selbstverständliche Gedanke der Selbsterhaltung unterbewußt längst abhanden gekommen ist? Huinink: Kinder, die aus instrumentellen oder normativen Gründen in die Welt gesetzt werden – wenn eine solch Motivation überhaupt funktionieren würde -, haben bestimmt nicht die familiären Startbedingungen, die wir uns heute für Kinder als angemessen vorstellen. Nein, es gilt vielmehr, die realen Probleme der heutigen Eltern-Generationen aufzugreifen und zu lösen, damit sie ihrem Kinderwunsch nachkommen können. Der Sozialwissenschaftler Heinz Lampert, bis 2001 wie Sie Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesfamilienministeriums, erachtete im Interview mit dieser Zeitung durchaus eine „geistig-moralische Wende“ für notwendig, um dem Problem des Bevölkerungsdefizites beizukommen, da „ökonomisches und individualistisches Denken zu dieser Fehlentwicklung geführt haben“. Huinink: Die moderne, individualistische Lebenseinstellung hat in der Tat zu einer enormen Veränderung der Entscheidungslogik in puncto Familiengründung und Bereitschaft, Kinder zu haben, geführt. Es ist heute eben nicht mehr traditionell, sprich selbstverständlich, Kinder zu haben – aber man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Die Frage, ob man Kinder bekommt, ist heute sehr viel stärker „bedingt“ – sprich, von externen Faktoren abhängig. Genau auf diesen Umstand muß eine gute Bevölkerungspolitik reagieren! Genau diese Faktoren so zu gestalten, daß sie der Verwirklichung des Kinderwunsches nicht entgegenstehen, ja ihn gar befördern, muß Aufgabe der Politik sein! Es ist ein Irrtum zu glauben, erst eine kulturelle Wende herbeiführen zu können, nach der dann die Menschen ihr Verhalten ausrichten. So funktioniert das aller Erfahrung nach nicht, ich glaube mich da im Grunde auch mit dem Kollegen Lampert einig: Nur wenn Sie die Rahmenbedingungen ändern und die Menschen dadurch zu einer Veränderung ihres Verhaltens bewegen können, wird sich als Folge dessen auch eine kulturelle Wende einstellen, in dem Sinne, daß Familie wieder attraktiv und – wie sagt man heute – „hip“ wird. Prof. Dr. Johannes Huinink ist stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Der Soziologe und Bevölkerungswissenschaftler lehrte in Bielefeld, Berlin, Leipzig, Rostock und seit 2003 am Institut für angewandte und empirische Soziologie der Universität Bremen. Huinink arbeitete zuletzt mit den Schwerpunkten „Bevölkerungs- und Familiensoziologie“ und „Theorie und Empirie der Sozialstruktur“. Geboren wurde er 1952 in Greven/Westfalen. Foto: Neugeborene auf der Entbindungsstation: „Die moderne, individualistische Lebenseinstellung hat in der Tat zu einer enormen Veränderung der Entscheidungslogik in puncto Familiengründung und Bereitschaft, Kinder zu haben, geführt.“ Grafik: Deutschlands Weg in die demographische Krise: „In den kommenden Jahrzehnten wird eine ‚Implosionsspirale‘ abbrennen. Die geburtenschwachen Jahrgänge bringen wiederum noch geburtenschwächere Jahrgänge hervor.“ weitere Interview-Partner der JF

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