Nicht bloß der Wind der Zufälle bewegt mich nach seiner Richtung, sondern ich bewege mich noch obendrein, ich wechsele die Richtung.“ Diese Worte Montaignes setzte Hans Magnus Enzensberger seiner „Meditation über den Anachronismus“ voran. Sie verweisen auf das bedingte und doch unerschöpfliche Individuum, das im Zeitalter des digitalen Kapitalismus als anachronistisch gilt. Hans Magnus Enzensberger, der, geboren in Kaufbeuren, am 11. November 75 Jahre alt wird, will sich dieser verbreiteten Vermutung nicht anschließen. Denn den Dichter – und damit sich selbst – begreift er ohnehin als anachronistische Figur, die aus anderen Zeiten kommt, hoffend, in andere zu gehen, und darüber ihre Lebendigkeit während der Metamorphosen der Zeit wirksam bestätigt. So gleicht der Dichter, wenn er denn neugierig genug auf die Welt ist, einem Chamäleon. Enzensberger ist ein Dichter, der wie Friedrich Rückert mit nimmermüder Feder alles zu poetisieren vermag und selbst in ganz beiläufigen Gedichten der pädagogischen Gebrauchslyrik mit ungewohnten Wortverbindungen oder Sprachbildern überrascht. Er will unterhalten und sich nützlich machen, indem er anderen nützt, sie unterrichtend und aufklärend. Das verlangt wache und aufmerksame Geduld, um Gespenster zu bannen, die sofort ihr Unwesen treiben, wenn die Vernunft und die an ihrem Gängelband gehaltenen Musen schlafen oder mit Schlafmitteln betäubt werden. Insofern mußte Hans Magnus zu einem Hans Dampf in allen Gassen werden, sich auf alles einlassend, was für Turbulenzen sorgt und für deren Beruhigung. Daß Poesie und Praxis unvereinbar ist, lernte er in Kuba. Aber er mochte deshalb nicht ganz darauf verzichten, sie vielleicht doch einander anzufreunden. Als geselliger, undogmatischer Aufklärer wirkt er als Anreger. Über das Kursbuch, Transatlantik oder die „Andere Bibliothek“ schuf er sich in einer formlosen Öffentlichkeit sein Publikum und wurde mit ihm eine Macht im Kampf der Moden und des Geschmacks. Seine eigene Macht mißbrauchte der Skeptiker nicht. Er genießt sie, um alle Ermächtiger, die auch er brauchte, daran zu erinnern, daß sie ununterbrochen ermächtig werden müssen, um nicht entmächtigt zu werden. Als weltläufiger Mann enthält er sich entschiedener Parteinahme. Montaigne klagte einst über die schlimmen Zeiten, in denen es nicht einmal erlaubt sei, wenigstens das schöne Bein eines Diebes zu loben. Enzensberger erlaubt sich in ähnlich schlimmen Zeiten, damit sie nicht noch schlimmer werden, gerade diese Freiheit. Unbekümmert um politische Korrektheit, ohne sie allzu deutlich zu verletzen, wirbt er für Aufklärung, Freiheit und Schönheit. Die Mächtigen lassen ihn gewähren. Denn Freiheit durch Bildung halten sie für einen Anachronismus. Aber, was sie, die Barbaren unter uns, stets vergessen: Die Zeiten sind doch immer in Bewegung, auch hin zurück zur Freiheit durch Bildung.
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