Herr Professor Scholl-Latour, entgegen allen Erwartungen ist der Angriff der Amerikaner auf den Irak im ersten Anlauf liegengeblieben. Der Oberkommandierende des US-Heeres, General William Wallace, hat eingestanden, man habe den Gegner unterschätzt. Wie konnte das passieren? Scholl-Latour: Die Planung der Operation war ganz offensichtlich unzureichend. Die politisch Verantwortlichen haben dem Militär ihre Vorgaben aufgedrückt, Verteidigungsminister Rumsfeld hat keine Skrupel, extremen Druck auszuüben, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Doch bislang ist die Operation wenig glorreich. Was meinen Sie konkret? Scholl-Latour: Eine rein militärische Planung wäre vermutlich vorsichtiger und realistischer gewesen, als die der politischen Scharfmacher aus der Umgebung Präsident Bushs – ich meine Perle, Wolfowitz und Rumsfeld. Letzterem wird inzwischen vorgeworfen, die Zahl der Truppen zu niedrig angesetzt zu haben. Scholl-Latour: Nicht unbedingt, aber offensichtlich handelt es sich um militärische Dilettanten. Jetzt rächt sich, daß Rumsfeld, statt auf seine Generäle zu hören, diese zusammengestaucht hat. Wird Rumsfeld politisch überleben? Scholl-Latour: Nun, schließlich liegt er auf einer Linie mit seinem Präsidenten. Allerdings kann man über Bush auch nicht besser sprechen, schließlich hat er sich mit seinem Dienst bei der Nationalgarde um den Wehrdienst in Vietnam gedrückt. Was genau ist bei der Operation falsch gelaufen? Scholl-Latour: Es sind verschiedene Pannen passiert, die bei weiser Vorraussicht vermeidbar gewesen wären. Zum Beispiel glaubte man, auf ein gründliches – notfalls wochenlanges – Bombardement zur Ausschaltung der Kommandostruktur des Irak verzichten zu können. Rumsfeld wollte mit der Heeres-Offensive simultan zu den Luftangriffen operieren. Zweitens hat man sich offenbar darauf verlassen, die Iraker würden beim Vorstoß im Süden entweder weglaufen oder die Truppen der Koalition als Befreier begrüßen. Das aber war eine politische Fehlkalkulation. Aber warum, Saddam ist doch ob seines Terrors und der Massaker seiner Armee unter den Schiiten im Süden verhaßt? Scholl-Latour: Die Schiiten kämpfen nicht für Saddam Hussein, sie kämpfen gegen die ungläubigen Eindringlinge, die sie zudem verraten haben. Sie dürfen nicht vergessen, daß sie 1991 von den USA – nachdem diese sie erst zum Aufstand gegen Saddam aufgewiegelt und dann im Stich gelassen hatten – regelrecht ans Messer geliefert worden sind. Allerdings muß ich zugeben, daß die Armee Saddams in der Tat den Eindruck eines „Sauhaufens“ gemacht hat – es gab augenfällig viele Volkssturmgestalten. Auch ich bin von diesem Widerstand überrascht. Das vorläufige Scheitern der Amerikaner im Norden erstaunt Sie dagegen nicht. Scholl-Latour: Man hatte sich darauf verlassen, daß die Türkei, wenn man nur genügend Dollar bereitstellt, zu kaufen wäre. Die Planer im Pentagon meinten darüber hinwegsehen zu können, daß neunzig Prozent des türkischen Volkes gegen den Krieg sind, daß in Ankara eine islamistische Partei regiert und daß die Militärs, die zwar eigentlich mitmachen wollten, doch auch ein erhebliches Maß an Nationalstolz besitzen. Nun muß sogar das bereits entladene US-Material wieder eingeschifft und auf anderem Wege ins Kriegsgebiet gebracht werden. I st denn nicht die Bildung einer Nordfront durch die Kurden möglich? Scholl-Latour: Mit den Kurden alleine, nein. Inzwischen hat Washington Luftlandetruppen in den Norden entsandt. Scholl-Latour: Bei der Gegend, in der die Fallschirmjäger gelandet sind, handelt es sich um ein sicheres Gebiet, das bereits von US-Spezialeinheiten kontrolliert wurde. Einen militärischen Sinn hat diese Operation also nicht gehabt, man wollte wohl nur die Pleite im Norden durch martialisches Auftreten übertünchen. Solche Unternehmungen – ein Absprung von 1.000 Mann – werden normalerweise heute gar nicht mehr durchgeführt. Das sind veraltete Taktiken. Kann man die Schuld wirklich nur auf die Zivilisten im Pentagon schieben: Daß die Sturmtruppen in Ortschaften wie Nasirija oder Umm Kasr liegengeblieben sind, ist doch eine taktische Fehlleistung der Truppe, keine strategische der Planer in Washington? Scholl-Latour: Ich kenne diese Orte aus eigener Anschauung. Die Gegend dort ist flach, gibt es keine Bodenfalte, um sich zu verstecken. Es ist angesichts der totalen amerikanischen Luftherrschaft und der Tatsache, daß die Verbündeten zehn Jahre lang den ganzen Irak aus der Luft fotografieren konnten, nicht nachvollziehbar, wieso der Widerstand der irakischen Truppen so hinhaltend ist. Allerdings unterliegen die Militärs einem enormen Mediendruck. Spielt das eine Rolle für den verfehlten Vormarsch? Scholl-Latour: Das Prinzip der US-Truppen ist „No Dead“, „Keine Toten“ – ganz im Unterschied zu den Operationen während des Zweiten Weltkrieges. Doch seit Vietnam leiden die Amerikaner an der Furcht vor Verlusten. Denken Sie daran, daß die Libanon-Mission nach einem Anschlag mit 240 toten GIs, die Somalia-Operation sogar nur nach dem Verlust von 18 Soldaten aufgegeben wurde. Mit wieviel Toten müssen die USA in diesem Krieg rechnen? Scholl-Latour: Das läßt sich nicht so ohne weiteres vorhersagen, aber die von Donald Rumsfeld kalkulierten 50 Gefallenen auf seiten der Amerikaner werden wohl weit überschritten werden. Ist die „No Dead“-Doktrin nicht eine unmilitärische Erwägung, die das amerikanische Zivil dem Militär aufzwingt, weil offenbar der mediale Propaganda-Krieg wichtiger ist als der militärische Krieg? Scholl-Latour: Aber sicher, die Achillesferse der US-Kriegführung ist eben die Moral der Heimatfront, und nicht die Stärke der Kampftruppen vorne. Aber seien Sie nicht unfair, diesem Primat unterliegen die deutschen Operationen genauso. Stellen Sie sich vor, in Kabul passiert nun im Windschatten des Krieges im Irak das, was dort bereits jederzeit passieren kann: Die ISAF-Garnison der Bundeswehr in ihrer mausefallenartigen Stellung wird angegriffen, und zehn deutsche Soldaten fallen. Was glauben Sie, was dann bei uns los ist! Die ersten US-Gefangenen waren Soldaten einer Nachschub-Einheit, nicht einer Kampfeinheit. Was hat das zu bedeuten? Scholl-Latour: Das ist ein Zeichen dafür, daß der Partisanen-Krieg begonnen hat. Denn diese Gefangenen sind nicht die Beute eines regulären Gefechtes, sondern Opfer eines Hinterhaltes geworden. Da es nicht gelungen ist, das Hinterland zu sichern, muß das US-Heer nun von Kuwait aus operieren. Bis vor Bagdad sind es von dort über 500 Kilometer. Für eine Armee ist das eine sehr lange Nachschubstrecke, die Partisanen viel Angriffsfläche bietet. Haben Sie so früh mit dem Beginn des Partisanenkrieges gerechnet? Scholl-Latour: Nein, ich hatte erwartet, daß diese Phase erst nach der Eroberung Bagdads beginnt. Wird der Partisanenkrieg über die Eroberung Bagdads hinaus in die Friedensphase danach reichen? Scholl-Latour: Ich sehe keine Friedensphase, der Haß gegen die Amerikaner wächst! Die Tatsache, daß die USA, wenn auch nur einige wenige, Tote gehabt haben, wird von ganz ungeheurer Wirkung in der arabischen Welt sein. Es wird Arabern aus der ganzen Region Mut machen, sich gegen Amerika zu stellen. Auch wenn Saddam jetzt verschwinden sollte, wird der Kampf weitergehen. Dann war die Enthauptungsstrategie der Koalition von Anfang an eine Fehlkalkulation? Scholl-Latour: Ja, nicht nur die Schiiten, alle Iraker kämpfen offenbar für ihr Land und gegen die Eindringlinge. Zwar hat ein irakischer Panzer auf offenem Schlachtfeld nicht die geringste Chance, das ist für die Amerikaner wie Tontaubenschießen, doch mit Zähigkeit und Flexibilität können sie den Amerikanern länger widerstehen. Das haben auch die Taliban in Afghanistan falsch gemacht. Sie haben versucht, einen statischen Widerstand aufzubauen, wären sie statt dessen gleich in die Berge geflüchtet und hätten von dort aus den Partisanenkrieg organisiert, wären ihre Erfolge größer gewesen. Mittlerweile ist es zum ersten Selbstmordanschlag auf die US-Streitkräfte gekommen. Ein Fanal? Scholl-Latour: Durchaus, denn das war kein nationalistischer Täter, sondern einer mit religiösem Hintergrund. Übrigens einer jener Schiiten, die die Amerikaner bislang eher auf ihrer Seite vermutet haben. Die USA begreifen offenbar nicht, daß sie den gottgefälligen, bewaffneten Widerstand der Araber gegen die Ungläubigen in der Nähe der heiligen Stätten provoziert haben. Das hat mit Saddam Hussein gar nichts mehr zu tun. Der Anschlag hat im Irak eine neue Dimension eröffnet. Im Pentagon wird man wohl – ebenso wie auf das Stocken des Vormarsches – mit Wut auf solche Ereignisse reagieren. Bislang hat man, das muß man den Amerikanern zugestehen, trotz einiger Fehlschüsse sehr gezielt bombardiert. Bei den Infanteriekämpfen in Basra zum Beispiel gibt es bislang sehr viel mehr zivile Tote als bei den Luftangriffen in Bagdad. Wenn aber nun der Widerstand die Form des Terrors annimmt und die Amerikaner mehr Gefallene zu beklagen haben als geplant, dann steigen damit Wut und Verunsicherung auf US-Seite, und es droht eine Intensivierung des Bombardements auf Bagdad und damit ein starker Anstieg der zivilen Verlustzahlen in der Hauptstadt. Mit welcher Folge? Scholl-Latour: Mit der Folge eines Aufschreis in der ganzen Welt. Wenn ich jetzt schon einen CDU-Politiker sehe, dann frage ich ihn immer, ob es denn überhaupt noch Katholiken in der Union gibt, denn die dürften doch die gegenwärtige Zustimmungspolitik ihrer Partei zu diesem Krieg nicht dulden. Der Papst hat deutliche Worte gesprochen. Sie haben geäußert, der kommandierende General im Irak, Tommy Franks, erinnere Sie an William Westmoreland, den kommandieren General in Vietnam. Meinen Sie damit, die Amerikaner hätten nichts dazugelernt? Scholl-Latour: Westmoreland, übrigens persönlich sehr höflich und sympathisch, hat stets einen ausgesprochenen Optimismus verbreitet, er sprach ständig vom unmittelbar bevorstehenden Sieg, hat aber gleichzeitig immer mehr Truppen angefordert. Ebenso handelt nun Franks. Doch woher sollen diese Truppen kommen, in den USA gibt es keine Wehrpflicht mehr. Dennoch prophezeien Sie kein zweites Vietnam? Scholl-Latour: Nein, denn in Vietnam wurde gegen eine Aufstandsbewegung gekämpft, das ist mit dem Krieg im Irak nicht vergleichbar. Noch ist der Gegner dort staatlich organisiert und zentral strukturiert. Sie haben gesagt, schneller als die Amerikaner wären die Türken in Bagdad, wenn sie denn in vergleichbarer Weise angreifen würden. Scholl-Latour: Ja, denn die türkische Armee ist eine Truppe, die sich durch eigene Verluste nicht aufhalten läßt. Die Türken würden einen konventionellen Krieg in aller Härte führen und stünden bald in Bagdad. Wird die türkische Invasion im kurdischen Irak kommen? Scholl-Latour: Die Iraker ziehen sich deshalb vor den Kurden immer weiter zurück, um die Kurden nach Kirkuk zu locken. Marschieren diese dort ein, so werden die Türken beinahe automatisch in den kurdischen Irak einfallen. Die Iraker stellen den USA also eine Nationalitätenfalle? Scholl-Latour: Genau. Doch sowieso dürften bereits etwa 1.000 türkische Soldaten im kurdischen Irak stehen – das aber schon seit längerer Zeit. Es ging damals darum, die kurdische Arbeiterpartei PKK von ihrem Rückzugsraum abzuschneiden. Die Kurden werden also zu den Verlierern des Krieges gehören? Scholl-Latour: Auf jeden Fall, die Kurden im Nordirak haben ihre beste Zeit hinter sich. Man ist autonom, sogar fast unabhängig, und aufgrund des Schmuggels geht es den Leuten sogar wirtschaftlich gut. Nun drohen die Türken, und die Kurden müssen sich wohl künftig in einen neuen Irak integrieren. Die Interessen der Kurden stimmen mit denen der USA nicht mehr überein. Wie ist das mit dem Anspruch der Amerikaner zu vereinbaren, die doch offiziell für die Freiheit der Menschen im Irak angetreten sind? Scholl-Latour: Das ist doch alles Geschwätz. Der Mann, der bereits die Strippen für die Neuordnung des Irak zieht, agiert im Hintergrund. Es ist Zalmay Chalilzad, er treibt derzeit im Nordirak sein Unwesen und ist ein enger Vertrauter Bushs und ein Mann der amerikanischen Erdölindustrie. Er hat bereits 2002 in Afghanistan das Parlament und die Petersberg-Konferenz in Deutschland organisiert, auf die die Bundesregierung so stolz ist. Sie haben darauf hingewiesen, Deutschland sei längst in den Irak-Krieg verwickelt – und das mit Wissen der Regierung! Scholl-Latour: Als nach dem 11. September die Fuchs-ABC-Abwehrpanzer für Kuwait angefordert wurden, war mir klar, daß der Irak-Krieg kommen würde. Damals war der Krieg gegen Saddam in Washington bereits beschlossene Sache, und das wußte man ebenso in Berlin. Nur war es für unsere Regierung opportun, sich bei den Amerikanern Liebkind zu machen, und dem Wähler hat man den Unsinn von Manövern in Kuwait auf die Nase gebunden. Alles Täuschung? Scholl-Latour: Nun, etwas zwischen Lüge und Feigheit, ebenso wie mit dem Ammenmärchen von der humanitären Mission der Bundeswehr in Afghanistan. Die ISAF-Mission ist schlicht eine Stützung Präsident Karzais. Die Petersberg-Konferenz war doch eine reine Komödienveranstaltung, die eine Hälfte des afghanischen Parlaments ist gekauft, die andere Hälfte ist erpreßt. Ohne seine amerikanischen Leibwächter wäre Karzai ein toter Mann. Welche Auswirkung wird der Krieg im Irak auf Afghanistan haben? Scholl-Latour: Er wird die Entwicklung in Afghanistan beschleunigen. Ich betrachte das, was sich dort formiert, bereits nicht mehr als Terrorgruppe, sondern als Widerstandsbewegung gegen die internationale Besatzung im Land. Das heißt, es droht Gefahr auch für die Bundeswehr? Scholl-Latour: Natürlich, auch für die Bundeswehr, deshalb wäre es eigentlich die Pflicht der Bundesregierung, unsere Soldaten so schnell wie möglich heimzuholen. Wie werten Sie in der Rückschau die Friedenspolitik der Bundesregierung? Scholl-Latour: Gerhard Schröder hatte schlicht den richtigen Instinkt für die Stimmung im Volk. Einer Überzeugung entspringt seine Politik bestimmt nicht. Es war Schröder, der noch Ende 2001 von der „uneingeschränkten Solidarität“ mit Amerika gesprochen hat. Für die Willfährigkeit unserer Regierung ist es bezeichnend, daß wir uns offenbar bereit erklären werden, uns nach dem Krieg am Wiederaufbau des Irak zu beteiligen – damit kritisiere ich natürlich nicht die Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten. Die Aufträge dafür sind schon alle an US-Firmen vergeben, wir werden also amerikanische Firmen bezahlen. Chirac hat schon völlig zu Recht entgegnet, der Irak habe genug Öl, um den Wiederaufbau aus eigener Tasche zu bezahlen. Die Deutschen sollen sich gefälligst raushalten. Es gehen bereits Gerüchte um, Deutschland solle 1.000 Friedenssoldaten in den Irak entsenden. Scholl-Latour: Noch verrückter! Sind wir nur Spielsteine im Spiel der Amerikaner? Denken Sie zum Beispiel an die Patriot-Raketen für die Türkei: Ein Witz, denn wenn Saddam Hussein noch Scud-Raketen hätte, würde er sie ganz bestimmt nicht nach Anatolien, sondern nach Kuwait oder auf Israel schießen. Es ging darum, die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen. Leider war der – eigentlich sympathische – Nato-Generalsekretär Lord Robertson in diesem Raketen-Spiel nichts weiter als ein willfähriges Instrument der Amerikaner. Die USA haben sich mit dem Angriff auf den Irak über die Uno hinweggesetzt. Muß das nicht Konsequenzen für die Vereinigten Staaten haben? Scholl-Latour: Im Prinzip ja, doch Israel ist auch schon oft genug verurteilt worden, und es ist daraufhin nichts passiert. Müßten die Europäer nicht endlich damit beginnen, ihr ganzes außenpolitisches Gewicht einzusetzen, um endlich einen gerechten Einsatz des Uno-Instrumentariums zu erwirken, auch wenn sie sich damit gegen die USA stellen? Scholl-Latour: Die Europäer sollten zuerst mit ihrem Friedensgeschwätz aufhören und endlich aufrüsten und das auch nuklear! Denn natürlich ist Europa bedroht, da haben die Amerikaner völlig recht! Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen bedroht uns alle. Halten Sie den Irak-Krieg also prinzipiell gar nicht für einen Fehler? Scholl-Latour: Saddam Hussein war doch für niemanden eine echte Gefahr. Dieses Problem hätte man auch ohne einen Krieg lösen können. Aber die Amerikaner wollten den Krieg und haben sich mit ihrem Aufmarsch selbst unter Zugzwang gesetzt. Colin Powell hat George Bush eingeredet, er würde die Zustimmung im Sicherheitsrat bekommen, da hat er sich aber geirrt. Doch inzwischen konnte Bush nicht mehr zurückziehen. Angesichts der Probleme der Koalition im Irak sieht sich die europäische Friedensbewegung bestätigt. Folgt man Ihrer Argumentation, trifft das aber nicht zu. Scholl-Latour: Die grundsätzliche Friedensverherrlichung in einer Welt, die aus Mord und Totschlag besteht, ist doch der reine Unsinn. Die USA geben offen zu, den Irak in gewisser Weise kolonisieren zu wollen. Bereits die Briten haben das versucht, doch ohne Erfolg. Wieso glauben die Amerikaner nun, ihnen gelänge dies? Scholl-Latour: Nun, schließlich haben die USA ein ganz anderes Konzept als die Engländer. Briten und Franzosen haben in ihren Kolonien auch ein Zivilisationswerk vollbracht, Kennzeichen amerikanischer Inbesitznahme ist dagegen eher die kapitalistische Ausbeutung. Ich glaube nicht daran, daß sich die Amerikaner damit durchsetzen werden, aber wir werden sehen. Die antiamerikanischen Demonstrationen in der arabischen Welt nehmen zu. Könnte nun passieren, wovor Fachleute schon 1991 und 2002 im Zeichen des Afghanistanfeldzuges gewarnt haben: Könnte das panarabische Entzünden des islamischen Pulverfasses folgen? Scholl-Latour: Diese Gefahr, die bislang nur verschwommen zu erkennen war, ist mit dem Irak-Feldzug ein gutes Stück realistischer geworden – nicht zuletzt, weil die Amerikaner bei ihrem Angriff in den Augen der Araber Schwäche gezeigt haben. Aber im Moment können die arabischen Staaten kaum etwas unternehmen, weil sie Angst haben, daß die USA sie als nächste angreifen werden. Syrien hat den USA bereits offen gedroht. Scholl-Latour: Die Drohung Syriens ist als Verzweiflungsreaktion zu werten. Assad weiß, daß sein Land – wegen der Duldung der Hisbollah – reif für eine israelisch-amerikanische Intervention ist. Manövriert sich Syrien so nicht erst recht in die Schußlinie? Scholl-Latour: Das Beispiel Irak hat die arabischen Staaten gelehrt, daß Beschwichtigungspolitik zu nichts führt. Und Assad steht mit dem Rücken zur Wand. Oder wollen die Amerikaner Syrien mit ihren Vorwürfen, sie operierten mit den Irakern, vielleicht schon als nächstes Ziel markieren? Scholl-Latour: Das ist denkbar, doch es ist ebenso möglich, daß syrisches Material im Irak aufgetaucht ist. Dieses kann allerdings auch auf privaten Kanälen dorthin gelangt sein. Werden die Amerikaner Massenvernichtungswaffen im Irak „finden“, unabhängig davon, ob dort tatsächlich welche sind? Scholl-Latour: Es ist soviel gemogelt worden, daß ich selbst das nicht ausschließen möchte. Am Ende steht dann Behauptung gegen Behauptung. „60 Staaten wollen die USA noch auf Vordermann bringen“ Ist es vorstellbar, daß sich die Amerikaner, irritiert durch die Schwierigkeiten dieses Feldzuges, durch die steigende Zahl ziviler Opfer und eigener Verluste vor einem militärischen Sieg zurückziehen werden? Scholl-Latour: Darauf spekuliert Saddam Hussein, aber dieses Kalkül wird nicht aufgehen, denn das können sich die USA längst nicht mehr leisten. Also führt kein Weg am Häuserkampf in Bagdad vorbei? Scholl-Latour: Wenn die Iraker nicht kapitulieren, nein. So oder so befürchte ich, daß Bagdad in diesem Krieg zerstört werden wird. Wird der Irak auseinanderbrechen? Scholl-Latour: Vermutlich werden die Schiiten und Kurden sich politisch lösen. Spätestens, wenn die Amerikaner abziehen. Mit welchen Folgen dieses Krieges muß Europa rechnen? Scholl-Latour: Die Proliferation, also die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln, wird sich beschleunigen, und der Terrorismus wird weiter entfacht werden. Dieser Feldzug wird die Welt nicht sicherer machen. Werden die Amerikaner dennoch nach der Erfahrung im Irak von ihren weiteren Kriegsplänen Abstand nehmen? Scholl-Latour: Sollten sich die Amerikaner nun auf den Irak beschränken, haben sie ihren sogenannten „Krieg gegen den Terror“ verloren, denn der ist viel weitreichender angelegt. Ich erinnere daran, daß angeblich Paul Wolfowitz und CIA-Chef George Tenet nicht weniger als sechzig Staaten genannt haben, die von den USA militärisch auf Vordermann gebracht werden müssen! Prof. Dr. Peter Scholl-Latour , geboren 1924 in Bochum, studierte der Jesuitenschüler in Mainz, Paris und Beirut. Als Fallschirmjäger diente Scholl-Latour unter deutscher, dann unter französischer Flagge. Seit 1950 ist er als Journalist tätig. 1954 bis 1955 war er Sprecher der Regierung des Saarlandes. Er unternahm Reisen in alle Erdteile. Von 1960 bis 1963 war er Afrika-Korrespondent der ARD, danach Leiter des Pariser Studios. 1969 wurde er Direktor beim Westdeutschen Rundfunk, wechselte aber 1971 als Chefkorrespondent zum ZDF, ab 1975 leitete er auch hier das Paris-Studio. 1983 bis 1988 war er Herausgeber des Stern, zeitweilig dessen Chefredakteur, und Vorstand bei Gruner + Jahr. Seine Reisen und zahlreichen Publikationen zur Situation im Nahen und Mittleren Osten machen ihn derzeit zu einem der gefragtesten Interviewpartner in den deutschen Medien. „Der ‚Anti-Terror-Krieg‘ der Bush-Administration droht in einem Weltkonflikt ungeahnten Ausmaßes zu münden“, schreibt Peter Scholl-Latour in seiner jüngsten Analyse: „Kampf dem Terror – Kampf dem Islam? Chronik eines unbegrenzten Krieges“, erschienen Ende Dezember 2002 im Münchner Propyläen-Verlag, 496 Seiten, 24,90 Euro. weitere Interview-Partner der JF