Herr Dr. Kaiser, warum ist Weihnachten auch heute noch wichtig, gleichgültig, ob man nun gläubig ist oder nicht?
Kaiser: Weihnachten markiert nun mal für alle Menschen ein wichtiges Datum in der Weltgeschichte: die Geburt Jesu Christi, der Wurzel der Religion, die unsere Kultur entscheidend geprägt hat. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Zeugnis der Bibel die Bedeutung Christi als des Retters, der die Menschen mit Gott versöhnt.
Sie betonen doch den religiösen Aspekt. Sollen also nur jene Weihnachten feiern, die darin rein das religiöse Fest sehen?
Kaiser: Das ist wirklich eine schwere Frage. Es gibt kein Gebot in der Bibel, das gebietet, Weihnachten zu feiern. Weihnachten ist vielmehr Ausdruck einer christlichen Kultur. Wenn man volkskirchlich denkt, liegt es auf der Hand, daß eine Gesellschaft, die einen gemeinsamen christlichen Grundkonsens hat, auch der Bedeutung Christi Rechnung trägt, indem sie Weihnachten feiert. Restbestände solcher Volkskirchlichkeit gibt es in unserem Volk durchaus noch, und sie schließen auch jene ein, die nicht im lebendigen Glauben stehen – warum auch nicht! Aber generell besteht in unserem Land nur noch eine Art gesellschaftlicher Konsens, Weihnachten zu feiern, ohne daß dieses Fest Ausdruck eines lebendigen christlichen Glaubens wäre. Wir haben die säkularisierte Form des Weihnachtsfestes, die aus nichts anderem mehr besteht als essen, trinken, schenken und feiern, ohne den ursprünglichen Sinn zu kennen. Das ist paradox – so wie vieles in der Welt.
Also doch feiern, um das Verlöschen des letzten Rests religiöser Erinnerung zu verhindern?
Kaiser: In der Tat. Allerdings sollte man es nicht unterlassen, deutlich zu machen, was der eigentliche Sinn des Weihnachtsfestes ist. Ansonsten entleert sich das Fest endgültig.
Was wären die Folgen?
Kaiser: Setzt sich die Säkularisierung der Gesellschaft fort, schließe ich nicht aus, daß es eines Tages im Sinne politischer Korrektheit zu einem Fest ohne Bezug zum christlichen Glauben umfunktioniert wird, daß der zweite Weihnachtsfeiertag gestrichen oder das Fest ganz abgeschafft wird. Das ist nicht so unmöglich, wie es jetzt noch klingen mag. Allerdings, und das macht mir andererseits Mut, ist in unserem Volk der Wunsch vorhanden, Weihnachten zu feiern.
Sie sind Sprecher des "Rates Bekennender Evangelischer Gemeinden". Wie feiern die Christen der "Bekennenden Gemeinden" Weihnachten?
Kaiser: Sie unterscheiden sich äußerlich nicht allzusehr von Christen anderer Kirchen: Gottesdienste mit Predigt, Bibellesung und Weihnachtsliedern, aber dies sicher auch bei vielen Familien zu Hause. Der wesentliche Unterschied zu den Großkirchen besteht darin, daß die Inhalte der Predigt und des Gebets wieder der Bibel und den reformatorischen Bekenntnissen entsprechen: Es wird nicht lediglich eine bloße Philanthropie beschworen, sondern man spricht von der Freundlichkeit Gottes, von seiner Menschwerdung in Christus und von der Erlösung des Menschen.
Worin besteht allgemein der Unterschied zwischen den "Bekennenden Gemeinden" und der EKD?
Kaiser: Die "Bekennenden Gemeinden" halten entschieden am reformatorischen Bekenntnis fest. Es geht nicht – das gilt es ausdrücklich klarzumachen – um eine neue Traditionsbildung, sondern darum, das reformatorische Bekenntnis, von dem die heutigen Großkirchen abweichen, wieder in Kraft zu setzen.
Weihnachten, wie wir es heute feiern, ist eine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters: die Verbindung von religiöser Substanz mit bürgerlichem Milieu. Halten Sie die Verbürgerlichung für eine zeitgemäße Form des Weihnachtsfestes oder für einen Sündenfall, der die Abkehr vom Religiösen markiert?
Kaiser: Es ist bestimmt kein Sündenfall. Es handelt sich vielmehr um eine bestimmte geschichtlich gewordene Form des Gedenkens an die Geburt Jesu Christi. Dieses Geschenk Gottes an die Menschen ist durchaus ein Anlaß, sich zu freuen, zu feiern und sich auch gegenseitig zu beschenken. Warum also nicht? Ich möchte solche Formfragen in großer Freiheit handhaben. Aber stets muß klar sein, daß die bürgerliche Form nicht das Wesen des Weihnachtsfestes ausmacht. Man kann Weihnachten auch ohne bürgerliches Ambiente, Festessen und Geschenke feiern, sogar hinter Stacheldraht. Denken Sie auch an jene Berichte aus dem Kessel von Stalingrad, wo Christen in großer Entbehrung und selbst im Angesicht des Unterganges das Christfest feierten.
Die Verbürgerlichung des Weihnachtsfestes spiegelt die geschichtliche Veränderung der Gesellschaft wider.Weihnachten ist inzwischen zum Konsumfest geworden. Ist dies nicht lediglich die Anpassung an die Wandlung der bürgerlichen Gesellschaft zur Konsumgesellschaft – also die folgerichtige Fortschreibung des Prozesses, den die Verbürgerlichung eingeleitet hat?
Kaiser: Formal mag es so aussehen, aber ich halte das Konsum-Weihnachtsfest eher für ein Surrogat. Die bürgerliche Gesellschaft hat vor hundert, in Teilen noch vor fünfzig Jahren Weihnachten mit biblischen Inhalten gefeiert. Ihre Familien setzten sich am Heiligabend zusammen, man las die Weihnachtsgeschichte, sang Weihnachtslieder, und vielleicht wurde auch gebetet. Erst in dem Maße, in dem die Inhalte verlorengingen, trat der Konsum an deren Stelle – und dies bekanntlich nicht nur an Weihnachten. Daß es heute anders ist, ist nicht von ungefähr. Die Kirchen haben die Weihnachtsbotschaft entleert, Jesus ist für sie nicht mehr Gottessohn und Erlöser, sondern allenfalls ein Vorbild für christliche Religiosität. Die Predigt und die Kenntnis einschlägiger Aussagen der Bibel haben in den Volkskirchen einen erschreckenden Tiefstand erreicht. Ich kann daher verstehen, daß der postmoderne Mensch in den Konsum flüchtet, weil er die Alternative nicht kennt, aber gutheißen kann ich diese Entwicklung nicht. Wenn es nur darum geht, Konsumbedürfnisse zu stillen, dann wird eine Sinngrenze überschritten: Geschenke und Konsum sind ohne Sinn.
Also plädieren Sie für völligen Konsumverzicht zu Weihnachten?
Kaiser: Durchaus nicht. Ein Fest ist sehr wohl ein Anlaß, einem Menschen, der einem nahesteht, etwas zu schenken. Dabei geht es um die Frage des Maßes und des Sinnes. Man sollte sich, wenn man schenkt, Rechenschaft darüber ablegen, warum man was schenkt. Weihnachtsgeschenke sollten nicht um ihrer selbst willen gemacht werden. Sie spiegeln das Geschenk Gottes an uns wider. Insofern ist auch bei der Geschenkauswahl zu fragen, ob ein Geschenk an sich dem Sinn des Weihnachtsfestes entspricht und ob es so bemessen ist, daß es den Anlaß nicht verdeckt. Darüber hinaus finde ich es besonders schön, wenn das Geschenk auch der Besinnung auf Weihnachten dient. Aber hier habe jeder Freiheit, seinem Nächsten Gutes zu tun.
Der Substanzverlust bezieht sich nicht nur auf den religiösen Gehalt, sondern ebenso auf die familiäre Bindung.
Kaiser: Ja, viele junge Menschen finden Weihnachten "ätzend", weil sie den Verlust des Familiären an Weihnachten besonders empfinden. Also gehen sie an Weihnachten in die Disco wie mitten im Juli.
Ist das nicht gerade eine Herausforderung für Sie, solche Menschen aufzufangen?
Kaiser: Ja, ich sehe dazu sehr wohl eine Chance. Allerdings darf man die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, an den postmodernen jungen Menschen heranzukommen und ihn auch zu überzeugen. Seine geistigen Bindungen liegen nicht im christlichen Glauben, und es bedarf geduldiger pastoraler Arbeit, um ihn zu erreichen.
Auf die Verweltlichung des Weihnachtsfestes schimpfen regelmäßig auch Spötter und Verächter, jene, denen es angeblich sowieso nichts bedeutet. Wie erklären Sie sich das?
Kaiser: Meines Erachtens liegt das an der Inkonsequenz, die sich daraus ergibt, daß man Weihnachten feiert, ohne den Grund für das Weihnachtsfest zu kennen. Es ist so, wie wenn eine Hochzeit gefeiert wird, ohne daß man weiß, wer geheiratet hat, oder ob überhaupt jemand geheiratet hat. Vielleicht aber ist es auch ein bißchen Neid, der dem Christen die Festfreude nicht gönnt, die man selbst nicht hat, weil man nicht an Christus glaubt.
Weihnachten spielt also trotz aller Unkenrufe auch bei den "Gegnern" eine große Rolle. Aber das Hauptfest der Christenheit ist doch eigentlich Ostern?
Kaiser: Das ist richtig. Karfreitag und Ostern waren sachlich der Höhepunkt des Werkes Christi auf Erden. Sie stellen auch den Höhepunkt des christlichen Festkreises im Jahresablauf dar. Im volkskirchlichen Bewußtsein aber ist dies ohne Zweifel Weihnachten, denn es ist ein stimmungsvolles Fest, stimmungsvoller als Ostern. Es fällt in die dunkle Jahreszeit, man zündet Lichter an, man hat etwas Urlaub, man knüpft hohe Erwartungen an die Familie, weil man sie zum Feiern braucht: Völlig verständlich, wenn Weihnachten im Empfinden der Menschen eine größere Rolle spielt als das Osterfest.
Sind Sie denn damit einverstanden, daß das wichtige Osterfest, und damit ja auch seine Botschaft, von Weihnachten verstellt wird?
Kaiser: Die Gefahr dazu besteht. Deshalb muß man beides in der richtigen Zuordnung zueinander sehen. Es ist nicht nur wichtig zu sagen: "Christus ist gekommen", sondern man muß auch sagen, wozu er gekommen ist, nämlich, um uns durch sein Leiden und Sterben mit Gott zu versöhnen und durch seine Auferstehung den Tod zu besiegen und die Tür zu einer neuen Schöpfung zu öffnen. Erst im Blick darauf gewinnt das "Christ, der Retter ist da!" seinen Sinn.
Ostern ist, wie Weihnachten, voller vorchristlicher heidnischer Symbolik. Wie bewerten Sie den althergebrachten heidnischen oder volkstümlichen Gehalt desWeihnachtsfestes?
Kaiser: Auch im Blick auf diese sehe ich die Inhalte als das Wesentliche an. Warum soll der christliche Glaube nicht auch vorgefundene kulturelle Formen aufnehmen und christifizieren? Es tut dem christlichen Glauben keinen Abbruch, daß Weihnachten mit der Wintersonnenwende zusammenfällt, solange Christus als der verkündigt wird, der die Finsternis der Welt wendet.
Wie bewerten Sie die Entwicklung der Moderne hin zu Atheismus und Heidentum?
Kaiser: Meines Erachtens gehen Atheismus und Heidentum Hand in Hand. Sie sind ein Zeichen des Verlusts christlich-abendländischen Denkens. Zum Atheismus ist zu sagen, daß es einen echten Atheismus, einen mehr oder weniger aktiven Kampf gegen Gott, tatsächlich kaum mehr gibt. Er ist im Grunde genommen nur eine Reaktion auf das vorzufindende Christentum und die Probleme, die es in sich birgt. Viel häufiger ist der sogenannte Agnostizismus, also die Meinung, man könne Gott nicht erkennen. Der postmoderne Mensch, der Mensch nach dem Zweiten Weltkrieg, sucht nun Ersatz. Er hält es für möglich, daß es Gott gibt, aber ebenso, daß es ihn nicht gibt. Vielleicht gibt es für ihn auch nur göttliche Kräfte. Das ist die eigentliche Stimmung im 20. Jahrhundert. Aus dieser Desorientierung erwächst eine Offenheit für heidnische Anschauungen, etwa fernöstliche, indianische oder auch altgermanische Vorstellungen. Die Desorientierung wird durch den nihilistischen Pluralismus unserer Zeit – durch die Meinung, niemand könne sagen, was richtig ist – unterstützt. Hier hat die Kirche den Auftrag, die Wirklichkeit des dreieinigen Gottes zu bezeugen.
Die Tatsache, daß es "Bekennende Gemeinden" bzw. überhaupt Freikirchen gibt, ist ein Signal dafür, daß die Bindungskräfte der großen Kirchen nachgelassen haben und sich einzelne Bürger und Gläubige daran machen, wieder eine überzeugende biblische Glaubensform zu formulieren. Werden denn die "Bekennenden Gemeinden" gerade zu Weihnachten, wenn vielen Menschen ihre Bindungslosigkeit schmerzlich bewußt wird, in seelsorgerlicher oder gar missionarischer Weise besonders tätig?
Kaiser: Es ist tatsächlich eine Chance, und eine solche Mission wird von den Bekennenden Gemeinden in unterschiedlichem Umfang betrieben. Diese hängt aber von der Initiative, den Kräften und Möglichkeiten der einzelnen Gemeinden ab.
Deutschland ist ein christliches Land, und wir sind ein Volk. Sollte Weihnachten auch im nationalen Rahmen gefeiert werden, zum Beispiel mit einem Staatsakt – immerhin gibt es schon eine Ansprache des Bundespräsidenten?
Kaiser: Wenn der Staat damit von sich aus sein Bekenntnis zur christlichen Grundlage deutlich machen will, begrüße ich das. Doch unser Staat ist bekanntlich in weltanschaulichen und religiösen Fragen neutral. Deswegen erwarte ich nicht, daß er so etwas tut. Weil der christliche Konsens in unserem Volk praktisch verschwunden ist, würde ich mir auch im Blick auf die Christlichkeit unseres Staates und seiner Repräsentanten lieber keine Illusionen machen. Ich halte es schon für beachtlich, daß wir überhaupt einen zweiten Weihnachtsfeiertag als gesetzlichen Feiertag haben. Es gibt Länder, die nur einen oder gar keinen Feiertag haben. Dort feiern Christen Weihnachten abends oder nur an einem Tag.
Resultiert diese Zurückhaltung aus der Furcht vor einer Staatskirche, die Sie als Freikirche naturgemäß fürchten müssen?
Kaiser: Ich darf korrigieren: die Bekennenden Gemeinden sind selbständig und bilden keinen Dachverband wie andere Freikirchen. Für uns ist wesentlich, daß die Gemeinden die Freiheit haben, Gottes Wort als Gesetz und Evangelium öffentlich zu verkünden. Die von Ihnen angesprochene Frage beschäftigt uns deshalb von Natur aus weniger, denn wir haben schon verfassungsmäßig keine Staatskirche. Deshalb schätzen wir auch die freiheitliche Verfassung, die uns die Bundesrepublik Deutschland bietet. Daß man darüber hinaus auch kulturelle Ausdrucksformen findet, die eine Verbindung von öffentlichem Leben und christlichem Glauben darstellen, halte ich nicht für schlecht, solange der Glaube im Vordergrund steht und die verfassungsmäßige Freiheit nicht durch Machtansprüche der Kirche oder des Staates eingeengt wird.
Wie kann Weihnachten wieder mehr Authentizität erlangen, ohne die Menschen religiös "zu überfordern"?
Kaiser: Das fängt in den Familien an. Die Familie ist eine ganz wesentliche Stütze sowohl für den Staat, die Kultur und den gesellschaftlichen Konsens als auch für die Kirche. In den Familien sollten wieder anhand der Bibel und am besten mit Hilfe eines Katechismus Fragen gestellt, diskutiert und beantwortet werden – in der Offenheit und Freiheit und gleichzeitig in der Verbindlichkeit, wie dies nur in Familien möglich ist. So können junge Menschen in vertrautem Rahmen und auf natürliche Weise wieder zu christlichen Inhalten finden, und diese wieder eine echte Bedeutung für sie erlangen. Es heißt aber auch, daß die Familie das ganze Jahr über funktionieren sollte. Man kann Familie an Weihnachten nicht eben mal "einschalten".
Insofern ist ein funktionierendes Weihnachten auch Ausdruck einer gesunden Gesellschaft?
Kaiser: Ich kann es so sehen, aber wir sollten uns vor Illusionen hüten. Wir werden hier weder die problemfreie Gesellschaft noch ein makelloses Weihnachtsfest haben. Das "Christ, der Retter, ist da!" ist Ausdruck der Freude über die Vergebung der Sünden, des Friedens mit Gott und der Hoffnung auf die neue Schöpfung. Diese aber schafft Gott selbst zu seiner Zeit.
Dr. Bernhard Kaiser geboren 1954 in Marburg, ist Rektor der "Akademie für reformatorische Theologie" in Marburg und Sprecher des "Rates Bekennender Evangelischer Gemeinden". Er studierte Theologie in der Schweiz und war sechs Jahre als Pfarrer in einer deutschen Gemeinde in Chile seelsorgerisch tätig.
"Bekennede Gemeinden": Der "Rat Bekennender Evangelischer Gemeinden" – der weniger Organisations- als Forum-Charakter hat – ist ein Zusammenschluß theologisch konservativer, selbstständiger evangelischer Gemeinden, die eine Rückbesinnung auf den eigent-lichen Gehalt der reformatorischen Bekenntnisse
pflegen.
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