Die Linkspartei rüstet sich zum bundesweiten Durchmarsch und diktiert den anderen Parteien vorab schon mal die Themen. Streng genommen handelt es nur um ein einziges Thema, um das sich die anderen gruppieren: um die soziale Gerechtigkeit! Diese soll vor allem hergestellt werden durch „die Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundversicherung, die vor Armut schützt“. Also ein voraussetzungsloser Wohlstand für alle, wobei der Kreis der Empfangsberechtigten – denn die Linke definiert die soziale Frage internationalistisch – weit, sehr weit gezogen werden soll. Das wäre nur durch weitere Umverteilung und Gleichmacherei zu haben, und auch das nur kurzfristig, denn irgendwann ist der Kuchen alle. Ein anderer Punkt im Forderungskatalog lautet: „Jedem Schulabgänger, jeder Schulabgängerin einen Ausbildungsplatz. Wer nicht ausbildet, soll zahlen.“ Nicht der funktionale Analphabet, der seine Schulzeit vergammelt hat, wird zur Verantwortung gezogen, sondern der Mittelständler, der mit der verkrachten Existenz nichts anfangen kann. Daß diese politische Logik, die den Leistungswillen untergräbt, ein Lumpenproletariat begeistert, ist klar. Doch Zuspruch findet die Linke auch anderswo. Er wächst proportional zum Vertrauensverlust, den die bisherigen Volksparteien erleiden. Die Große Koalition hat sich als letztes Aufgebot der etablierten politischen Klasse erwiesen, das seine Bewährungsprobe nicht bestanden hat. Den meisten Wählern ist im letzten Winkel ihres Herzens klar, daß der Sozialstaat neu konzipiert werden muß. Vor dieser Aufgabe hat die Große Koalition versagt. Wenn aber das politische Spitzenpersonal außerstande ist, über den Tag hinaus konzeptionell zu denken und zu handeln, dann geht der Wahlbürger vor dieser Zumutung erst recht in die Knie – und er wendet sich dorthin, wo man ihm den Erhalt seiner Besitzstände verspricht, die ihm Sicherheit bedeuten. Die Forderung nach Erhalt und Ausbau des Massenwohlstands ertönt in sämtlichen Massendemokratien. In Deutschland steht die Formel von der sozialen Gerechtigkeit zugleich für eine Metaphysik des Staates. Sozialdemokratismus und katholische Soziallehre sind hier mehr als hundert Jahre lang Hand in Hand marschiert, haben in einmaliger Weise gesiegt und die deutsche Mentalität tief geprägt. Bereits Bismarck führte, um den Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln zu nehmen, international beispielhafte soziale Sicherungssysteme ein. Die Weimarer Republik, soweit sie das unter schwierigsten Bedingungen vermochte, hat diesen Kurs fortgeführt. Hitler übernahm die Macht mit dem Versprechen, sich noch energischer der sozialen Frage anzunehmen und „dem deutschen Arbeiter (…) von jetzt ab die Bahn freizumachen zu dem, was er fordern und verlangen kann“. Ludwig Erhard, der Begründer der sozialen Marktwirtschaft, wurde in dem Augenblick unpopulär, als er im Wissen um die ökonomischen Zusammenhänge und Risiken vor einer Überhitzung des Privatkonsums warnte. Willy Brandt ließ die Staatsverschuldung explodieren, sein Nachfolger Helmut Schmidt fand nicht die Kraft, sie einzudämmen, genausowenig Helmut Kohl. Erst Gerhard Schröder versuchte mit der Agenda 2010 eine Kursänderung, verstand es aber nicht, sie mit einer gesellschaftspolitischen Vision zu verbinden, die seinen Angriff auf die deutsche Sozialstaatsmentalität rechtfertigte. Hinzu kamen handwerkliche Fehler, die etwa zur unvorhergesehenen Entlastung des internationalen Finanzkapitals führte. Damit war den Hartz-Reformen die moralische Basis entzogen. Die SPD nach Schröder war außerstande, die fällige intellektuelle Begründung nachzureichen, warum die Hartz-Reformen mehr sind als ein konzeptloses Abbruchunternehmen. In dieses Vakuum stößt jetzt der Charismatiker Oskar Lafontaine. Es erzeugt Bitterkeit, daß eine Partei, die historisch, organisatorisch und politisch weitgehend in der SED wurzelt, zu einer bestimmenden politischen Kraft im wiedervereinigten Deutschland wird. Gleichzeitig endet damit eine aus der deutschen Teilung herrührende Besonderheit. Die radikale Linke ist in Deutschland nämlich stets stark gewesen, 1932 holte die KPD im Reich rund 15 Prozent, ihr gesellschaftlicher Einfluß ging weit darüber hinaus. Nach 1945 kam sie unter dem SED-Logo und dem Schutz der Sowjet-union in der SBZ/DDR an die Macht. Der Preis dafür war, daß sie in Westdeutschland parteipolitisch bedeutungslos blieb. Die KPD wurde 1956 verboten, ihre Nachfolgepartei war durch das DDR-Beispiel unheilbar diskreditiert. Die brachliegenden radikalen Energien, die sich in der politischen und ökonomischen Revolution nicht entladen konnten, explodierten auf anderen Gebieten, auf dem Feld der Vergangenheitsbewältigung und vor allem in der Kulturrevolution der Studenten. Diese wandte sich gegen die bürgerlichen Zumutungen an das Leben, gegen Disziplin, Hierarchie, Leistung, Askese. Sie machte den Weg frei zur Mentalität des voraussetzungslosen Wohlstands, der in der irrealen DDR-Ökonomie bereits seine praktische Verwirklichung gefunden hatte – bis zum Zusammenbruch. In der ost-westlichen Linkspartei wächst nun zusammen, was zusammengehört.
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