Die – nach der vorgezogenen Bundestagswahl – nun wieder tagende Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ beabsichtigt, die Kultur als Staatsziel im deutschen Grundgesetz zu verankern. Dies ist ein richtiger Schritt. Zwar definieren „Staatszielbestimmungen“ zunächst relativ konturlose Aufgabenfelder, doch sind sie im Einzelfall von nicht zu unterschätzender Wirkungsmacht. Wenn zum Beispiel Streitverfahren bis vor das Bundesverfassungsgericht gehen sollten, etwa wenn grundsätzliche Kulturversorgungsfragen im Raum stehen, dann kann sich der Gesetzgeber nicht länger seiner Verantwortung entledigen. Kultur ist demgemäß keine freiwillige Aufgabe, die nur nach Kassenlage bedient werden kann, sondern ein der Gesellschaft inhärenter Auftrag. Diese Betrachtungsweise wird – nicht zuletzt – durch den Vertrag der derzeit regierenden Großen Koalition legitimiert. Kultur ist eben nicht als bloße Subvention abzutun, sondern vielmehr als Investition zu begreifen. Dieses Verständnis impliziert den ständigen Auftrag an die Bundesregierung, die Erfordernisse des aktuellen Lebens zu berücksichtigen. Es dient dem Schutz und der Förderung der Kultur. Dies ist um so dringlicher, da die Förderung von Kultur im Grundgesetz nicht positiv verankert ist. Dabei sind der Schutz, die Förderung und die Vermittlung von Kunst und Kultur in ihrer Breite und Vielfalt untrennbar mit einer lebendigen Zivil- und Bürgergesellschaft verbunden. Hierzu gehört insbesondere die Bewahrung des kulturellen Erbes, beispielsweise in der Musik. Hier gilt es im Klassikbereich, sich der übermächtigen Unterhaltungsbranche zu erwehren. So muß dafür Sorge getragen werden, daß das jüngere Publikum nicht vom reichen deutschen Kulturerbe abgeschnitten wird. Denn gerade in Zeiten dramatisch angespannter öffentlicher Haushalte ist es üblich, daß der Kulturbereich als erster geopfert wird. Dr. Marlies Weise ist Kulturwissenschaflterin in Berlin. Ein Staatsziel „Kultur“ ist wenig hilfreich. Erstens: Der Begriff Kultur ist dem Wesen der Kultur gemäß unbestimmt und vermag darum keine rechtliche Wirkung zu entfalten. Der Begriff Kultur verfaßt das Leben des Gemeinwesens insgesamt. Offen ist bereits, in welchem Gemeinwesen die Deutschen leben, in den Ländern Deutschlands, in der Bundesrepublik Deutschland, in der Europäischen Union oder in der Weltgemeinschaft. Aber zu welcher Kultur verpflichtet diese Erkenntnis? Ein enger Kulturbegriff, der auf Wissenschaft, Kunst und Bildung beschränkt wird, blendet wesentliche Teile der deutschen Kultur aus, insbesondere die Religionskultur, aber auch die Unternehmenskultur. Zweitens: Das Grundgesetz verfaßt, so wie es geschrieben ist, einen Kulturstaat. Vor allem verpflichtet es Deutschland der Menschenwürde und den Menschenrechten (Art. 1 GG). Demgemäß verfaßt es eine Republik, die ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat sein muß, aber auch einen Bundesstaat (Art. 20 GG). Der Föderalismus sichert die kulturelle Vielfalt. Ein Kulturstaatsziel birgt die Gefahr, die fundamentalen Prinzipien zu relativieren, weil sich ein gegensätzlicher Kulturbegriff entwickeln kann. Diese Gefahr zeigt sich bereits in dem Begriff der multi- oder interkulturellen Gesellschaft. Ein Kulturstaatsziel gibt den Gerichten die Macht zu einer Umdeutung der Leitbegriffe des Grundgesetzes. Drittens: Die Kultur ist Sache der Menschen, die zusammenleben. Das gute Leben ist auch Sache ihres Staates. Die Kultur entfaltet sich in Privatheit und Staatlichkeit. Wirtschaft, Sport, Kirchen, Sorge für Alte, Kranke, Schwache und Menschen ohne Arbeit gehören zur Kultur des gemeinsamen Lebens. Das wichtigste Prinzip der Kultur ist: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Freiheit ist Sittlichkeit, deren Gesetz der kategorische Imperativ, das Sittengesetz ist (Art. 2 Abs. 1 GG), das alles gemeinsame Leben dem Prinzip Recht verpflichtet. Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider ist Ordinarius für Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg.