Wer da gemeint hat, zum Fall des aus der Unionsfraktion ausgeschlossenen und um seine Mitgliedschaft in der CDU kämpfenden Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann sei im Grunde schon alles gesagt worden, der hat sich geirrt, denn er kennt die unergründlichen Trampelpfade deutscher Bezichtigungen und Selbstkasteiungen nicht – die allerdings meist am Leibe eines anderen vollzogen werden. Die neueste Nachricht besagt, Hohmann habe vor wenigen Tagen beim Oberlandesgericht Frankfurt/Main eine einstweilige Verfügung gegen den Mediengiganten Gruner+Jahr errungen. Den mächtigen Medienmoguln ist es bei Meidung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 250.000 Euro oder bei Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, gerichtlich verboten worden, dazu noch „zu vollstrecken am Vorsitzenden des Gruner + Jahr-Vorstandes“, wörtlich oder sinngemäß zu behaupten, Hohmann habe „die Juden als Tätervolk bezeichnet“. Man erinnere sich: Mit dieser Behauptung eines ARD-Journalisten nahm die ganze Affäre ihren Anfang. Älteren journalistischen Kalibern, die noch nach den früher herrschenden Regeln des Zeitungsmachens erzogen wurden (nämlich Respekt vor den Tatsachen zu haben), ist noch heute nicht klar, wie die Geschichte vom angeblichen Tätervolk sich derart verselbständigen und ausbreiten konnte, obwohl Hohmann einwandfrei das Gegenteil von dem gesagt hatte, was man ihm jetzt unterschob. Doch auch das Oberlandesgericht Frankfurt erweist sich als machtlos. Zuvor schon waren alle gegen Hohmann gerichteten Strafanzeigen wegen Volksverhetzung, Beleidigung und übler Nachrede von der örtlichen Staatsanwaltschaft abgelehnt worden. Wörtlich stellte diese fest, die Äußerungen des Abgeordneten zum Tag der Wiedervereinigung erfüllten keinen strafwürdigen Tatbestand. Nachdem staatsanwaltlich festgestellt wurde, daß Hohmann auch den Holocaust weder geleugnet noch bagatellisiert habe, und die Aufnahme von Ermittlungen gegen Hohmann abgelehnt wurde, könnten naive Gemüter meinen, damit könne der ganze Fall zu den Akten gelegt werden. Aber nein – weit gefehlt. In einem Spiegel-Interview bezeichnete diese Woche Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ein an sich gemäßigter Mann, den Abgeordneten als „Konjunktiv-Antisemiten“ – in Anlehnung an die (Hohmann entlastende) Formulierung der Justiz. Allerdings: Was ist ein „Konjunktiv-Antisemit“, und wer bestimmt, wer ein solcher ist oder sein könnte? Geraten wir hier nicht in eine Situation, in der jeder plötzlich als Konjunktiv-Antisemit dastehen könnte? Es bleibt die bedrückende Erkenntnis, daß in der heutigen Befindlichkeit der Deutschen nicht mehr Tatsachen, sondern diffuse Meinungen den Ausschlag geben – jedenfalls trifft das auf die vorherrschende (und meinungsmachende) Medienszene zu. Auch hier mag persönliche Erinnerung ein wenig nachhelfen: Es bleibt der Eindruck, daß das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in den ersten Jahren der Bundesrepublik schon viel weiter und unverkrampfter war, als es heute ist. Damals handelten zwei alte und deshalb wohl auch weise Herren – Konrad Adenauer und David Ben Gurion – den ersten Wiedergutmachungsvertrag zwischen Israel und dem westlichen Deutschland aus. Die damals Handelnden auf beiden Seiten waren sich des Problems wohl bewußt, was aber fehlte, war das „Chiliastische“, auch wohl das Unversöhnliche, das heute gepflegt wird – übrigens weit mehr in der veröffentlichten deutschen Meinung als in Israel und der jüdischen Gemeinschaft. Was das Schicksal des Abgeordneten Hohmann betrifft, so wird er es trotz aller juristischen Rehabilitierungen nicht leicht haben. Zu sehr haben sich die Tugendwächter auf ihn eingeschossen – und manchmal erinnert dieses keineswegs harmlose Spiel an jenen Polizeichef, der einmal sagte: Wir werden so lange am „Verdächtigen“ herumsuchen, bis wir schlußendlich doch noch etwas finden. Daß ein solches Verhalten dem Rechtsstaat widerspricht und daß – wenn schon nichts anderes – auch für Hohmann die Unschuldsvermutung zu gelten hat, sollte keiner Betonung bedürfen. Es bleibt die nicht gerade ruhmreiche Rolle der Unionsparteien in diesem argen Spiel. Hier vermißt man jede „geistige“ und „ideelle“ Führung. Die Union als (ursprünglich) bürgerliche Partei, welche eine Führungsposition in der deutschen Politik beansprucht, sollte den Mut finden und den Tatsachen ins Auge sehen. Wenn heute etwa behauptet wird, man dürfe das kommunistische System nicht mit dem Regime Hitlers vergleichen, weil viel weniger Menschen Opfer des Kommunismus wurden als zwischen 1933 und 1945 Opfer der Nationalsozialisten – dann trifft das eben nicht zu. Das Schwarzbuch des Kommunismus spricht von 60 bis 100 Millionen Opfern des kommunistisch-sowjetischen Systems. Natürlich kann es hier nicht um „Aufrechnungen“ gehen, wohl aber um Tatsachen. Und Tatsache ist, daß der Abgeordnete Hohmann zwar juristisch rehabilitiert wurde, trotzdem aber von einer mächtigen veröffentlichten Meinung als Geisel gehalten wird. Wie lange werden es sich CDU und CSU noch erlauben können, die eigenen Leute abschießen zu lassen?