Die CDU-Vorsitzende traut sich in die Außenpolitik. Selten genug kommen Vorstöße von Angela Merkel in diesen Bereich der Politik. Aber kurz vor den Landtagswahlen am letzten Sonntag in Brandenburg und Sachsen verlangte sie in einem Brief an die Vorsitzenden der CDU-Schwesterparteien in der Europäischen Union, gemeinsam gegen die unter anderem von der deutschen Bundesregierung unterstützte Vollmitgliedschaft der Türkei zu kämpfen. Man mag sich fragen, was der tiefere Sinn dieser Aktion war. Das Ergebnis war jedenfalls eindeutig: In Europa stieß die CDU-Chefin auf wenig Gegenliebe, und innerparteilich meldeten sich abweichende Meinungen, was die Autorität der Vorsitzenden in Frage stellte. Die Frage der Vollmitgliedschaft der Türkei rührt an einem europäischen Grundverständnis: Endet der alte Kontinent am Bosporus, oder reicht er bis zur irakischen und syrischen Grenze? Die USA, die die Frage vor allem unter sicherheitspolitischen Aspekten betrachten, befürworten eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Sie wollen den Nato-Bündnispartner auch in die Wirtschaftsgemeinschaft Europa eingebunden sehen, um einer Destabilisierung oder Islamisierung in Ankara vorzubeugen. Die Mehrzahl der europäischen Regierungen beurteilt den Fall pragmatisch: Sie sehen zusätzliche Absatzmärkte in der Türkei, und die Zeche durch die erhöhten Beitragszahlungen müßten ohnehin die Deutschen zahlen. Die anfänglichen Kosten einer Aufnahme der Türkei werden auf 40 Milliarden Euro beziffert. Folgerichtig handelte sich Merkel Kritik und Unverständnis ein. Selbst der christdemokratische Regierungschef des kleinen deutschen Nachbarn Luxemburg, Jean-Claude Juncker, sagte, die Türkei habe bereits seit fünf Jahren Kandidatenstatus. Ihr jetzt, wie Frau Merkel fordere, eine privilegierte Partnerschaft anzubieten, komme zu spät. Die EU-Kommission befindet sich sowieso auf einem ungebremsten Expansionskurs. In Brüssel wird bereits die Aufnahme von Bulgarien, Rumänien und Kroatien angestrebt. Der von EU-Kommissar Günter Verheugen demnächst vorzulegende Bericht über die Situation der Türkei wird des Lobes voll sein – und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob das Parlament in Ankara vielleicht die Strafbarkeit des Ehebruchs beschließt. Auch wird es keine Rolle spielen, daß die Türkei nur 20 Prozent der durchschnittlichen europäischen Wirtschaftsleistung erreicht. Merkel selbst hat auch keine ganz eindeutige Haltung. In ihrem Brief begrüßt sie das „bemerkenswerte Reformprogramm“ der Türkei und schreibt von einem „Modell eines laizistischen, demokratischen Staates in der islamischen Welt“. Wer diese Thesen vertritt, kann genausogut die Aufnahme der Türkei befürworten. Das tut die CDU-Chefin aber dann doch nicht, sondern redet der privilegierten Partnerschaft mit der Türkei das Wort. Damit soll immer noch die Idee von einem politisch vereinigten Europa gerettet werden. Die Verwirklichung wäre mit einer Türkei als Mitglied ausgeschlossen, weil die EU damit zu einer reinen Freihandelszone mit Liberalisierung in allen Lebensbereichen degenerieren würde. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos hat dies erkannt und sprang Merkel bei: „Wer aus politischen Gründen einen Beitritt der Türkei befürwortet, der muß eine Antwort auf die Frage geben, wie sich die EU verhält, wenn weitere Anrainerstaaten von Marokko bis hin zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion einen Beitrittsantrag stellen.“ Bei dieser Strategie zeichne sich ab, daß sich die EU vom Ziel einer echten politischen Union verabschiede, so Glos. An diesem Ziel ist anderen europäischen Ländern weniger gelegen. Weder Briten noch Franzosen wollen wirklich die politische Union, die Briten wollen nicht einmal die europäische Währung. Die übrigen Länder sahen im Euro eher Vorteile als Nachteile, weil sie damit die Deutsche Bundesbank als Hüterin einer starken Leitwährung in Europa entmachten konnten. Erwartungsgemäß wurden bereits alle Stabilitätsvereinbarungen ausgehebelt. In Brüssel findet seitens einer von Franzosen und Briten beherrschten EU-Kommission eine reine Interessenpolitik statt. Die Liberalisierungs-Ideologie hat bereits zu einem Ausverkauf der deutschen Industrie geführt, die hohen EU-Beiträge zehren an der Finanzkraft der Bundesrepublik. Wenn die Mitgliedschaft der Türkei in das Brüsseler Konzept paßt – und danach sieht alles aus -, wird auch eine deutsche Kanzlerin Merkel sie nicht in Frage zu stellen wagen. Denn damit würde sie an einem deutschen Tabu rütteln: dem bundesrepublikanischen Grundverständnis, alles gut zu finden, was Europa macht. Wenn sie denn je Kanzlerin werden sollte. Öffentlich wandten sich Parteifreunde gegen die CDU-Chefin. Daß der Vorsitzende des Deutsch-Türkischen Forum der CDU, Bülent Arslan, Merkels Vorstoß kritisierte, wird sie verschmerzen können. Und daß der politisch am Ende seiner Karriere angelangte ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe widersprach, war ebenfalls nicht so wichtig. Aber daß sich mit dem Hamburger Bürgermeister Ole von Beust gleich ein Ministerpräsident öffentlich gegen sie stellte, zeigt die geringe Autorität der CDU-Vorsitzenden.