Auf wen hört die deutsche Politik? Während der in den vergangenen Monaten wieder aufgelebten Debatte um die mißglückte Rechtschreibreform ist im Volk die Zustimmung zum Neuschrieb weiter gesunken. Den Allensbacher Meinungsforschern zufolge sank die Zahl der Reformbefürworter vom Spitzenwert mit 13 Prozent im April dieses Jahres auf elf Prozent im September. Die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer scheren sich nicht um diese niedrige Zustimmungsquote. Auf ihrer Konferenz in der vergangenen Woche beschlossen sie, sich der Rechtschreibreform nicht in den Weg zu stellen. Sogar der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, der mit großem persönlichen Einsatz seit Juni gegen die Reform eingetreten war, ging nach Canossa. Er machte eine Kehrtwende um 180 Grad und stimmte dem Beschluß zu, daß wie geplant am 1. August 2005 die staatlich verordnete Verhunzung der deutschen Schriftsprache an den Schulen als alleiniges Rechtschreibmaß in Kraft tritt. Warum setzen die Ministerpräsidenten etwas durch, das nur noch von elf Prozent der Deutschen verteidigt wird? Die Rechtschreibreform zeigt beispielhaft, daß die Macht in Deutschland weder beim Volk noch bei den Volksvertretern liegt, sondern bei starken Interessenverbänden, die mit Hilfe gezielter Beeinflussung in den führenden Politikern willige Vollstrecker ihrer ideologischen und finanziellen Interessen finden. Wie unwichtig den Herrschenden der Wille des Volkes ist, zeigt sich in der von der Kultusministerkonferenz (KMK) vorgeschlagenen Besetzung des Rats für deutsche Rechtschreibung, der nach dem Willen der Ministerpräsidenten bis zum 1. August 2005 ein paar wenige Schnitzer des Neuschriebs tilgen soll: Der Anteil der Reformkritiker ist nahezu umgekehrt zur Meinungsverteilung im Volk. Gönnerhaft verkündet die KMK: „In dem Rat haben ausdrücklich auch Kritikerinnen und Kritiker der reformierten Rechtschreibung einen Platz.“ Doch gerade mal zwei von 36 Sitzen sollen den – zudem zaghaften – Reformgegnern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zugestanden werden. Der Rest besteht hauptsächlich aus Vertretern, die schon bisher dem willfährigen Beirat der Rechtschreibkommission angehört haben. Damit hätten die Rechtschreibreformer stets eine satte Abstimmungsmehrheit. Das sind Mehrheitsverhältnisse wie einst in der untergegangenen Arbeiter- und Mauernrepublik. Ein solcher Neuschrieb-Sowjet ist nicht viel mehr als eine Quasselbude und wird nicht einmal winzige Veränderungen vornehmen können. Aber selbst eine 100-Prozent-Mehrheit für die selbsternannten Reformer ist nicht ausgeschlossen. Bislang hatte die Akademie nämlich für ihre Mitarbeit zur Bedingung gemacht, daß die Rechtschreibreform nicht am 1. August 2005 in Kraft tritt. Bis dahin sei es unmöglich, die Fehler der Reform zu reparieren, glaubt ihr Präsident Klaus Reichert. Auf ihrer Herbsttagung will die Akademie nun darüber entscheiden, ob sie sich künftig regelmäßig im Rechtschreibrat von den Reformern überstimmen und vorführen lassen will. Die Unfähigkeit der Ministerpräsidenten, dem Volkswillen Rechnung zu tragen, zeigt erste Wirkung. Nachdem bis jetzt nur die Springer-Blätter wieder klassisch schreiben und die Süddeutsche bereits eine nur unvollständige Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung angekündigt hat, womit die Zeitung das Durcheinander abermals vergrößert, wird jetzt auch der Spiegel ängstlicher. Das Blatt schreibt in seiner neuesten „Hausmitteilung“, daß es sein weiteres Vorgehen von der Besetzung des Rates für deutsche Rechtschreibung sowie vom Ablauf und vom Ergebnis der Beratungen abhängig machen werde. Unterdessen machen die echten Reformgegner unverdrossen weiter. Sie erwarten, daß ab dem neuen Schuljahr wieder die Gerichte angerufen werden. Denn dann wird auf staatliche Anordnung die Schreibweise der Dichter und Denker nicht mehr wie jetzt noch geduldet, sondern kann die Schulnote verschlechtern. Der Verfassungsrechtler Rupert Scholz spricht sogar von einem „Verfassungsverstoß“, denn die Rechtschreibreform habe keine Vereinfachungen gebracht und Widersprüche nicht beseitigt. Das habe jedoch 1998 das Bundesverfassungsgericht zur Bedingung für staatliche regulierende Eingriffe in die Sprache gemacht. Das Kapitel Rechtschreibreform ist also noch lange nicht abgeschlossen. Was den Reformern fehlt, besitzen die Reformgegner: zahlreiche Bürgerinitiativen mit Witz. Auf der soeben ins Leben gerufenen Netzseite www.raechtschreibung.de verkünden Reformgegner trotzig: „Ich liebe ß“ und fordern: „Pizza statt Pisa, und damit pasta!“ Auf der Frankfurter Buchmesse vereinte der als „Rechtschreib-Rebell“ bekannt gewordene Deutschlehrer Friedrich Denk 250 Schriftsteller und Verleger hinter einem „Frankfurter Appell“, der die Rücknahme der Reform fordert. Wenn es nicht einmal gelingen sollte, einen solchen Irrweg wie die mißglückte Rechtschreibreform zu verlassen, deren Schwächen und Fehler Legion sind, wie soll die Politik dann die Herausforderungen meistern, die die Zukunft an das Volk richtet? Thomas Paulwitz ist Schriftleiter der vierteljährlich erscheinenden Zeitung „Deutsche Sprachwelt“, Postfach 1449, 91004 Erlangen.