Unsere Gesellschaft, so heißt es, sei von Vorurteilen durchdrungen. Das stimmt auch wirklich. Nur findet man interessanterweise die stärksten Vorurteile bei denjenigen, die im Glauben leben, selbst Vorurteile erkannt und durch kritisches Hinterfragen zumindest für sich persönlich aufgelöst zu haben. Aber das haben sie nicht. Nur erkennen werden sie es nicht, weil ihnen dafür ihr größtes Vorurteil im Weg steht: das Vorurteil, sie hätten es mit dem Denken.
Die Tätigkeit ihres kritischen Hinterfragens, so glauben sie, sei Ausdruck einer ausgeprägten Denktätigkeit. Wer diese scheinbare Intellektualität daher nicht aufzeigt, ist in ihren Augen „dumpf“, „reaktionär“ und so weiter. Er kann dementsprechend nicht über ihren Erkenntnishorizont verfügen. Und so maßen sie sich an, über ihn zu verfügen. Über sein Leben, über das Leben seiner Kinder, über alles. Dennoch befinden sie sich im ernstlichen Glauben, vorurteilsfrei zu sein.
Ein einfaches Beispiel für viele: Es ist der grundlegende Gedanke von Demokratie, daß die Bürger einer Gesellschaft mehrheitlich vernunftfähig sind. Dementsprechend gibt es keinen der Demokratie entgegengesetzteren Gedanken als die Furcht, sie seien mehrheitlich irrational und müssten durch allerlei Maßnahmen kontrolliert werden. Dennoch glauben tatsächlich diejenigen, die vor einem „Extremismus aus der Mitte unserer Gesellschaft“ warnen, sie seien Demokraten.
Was man ist und was man glaubt zu sein
Diese krasse Fehleinschätzung von dem, was man ist und dem, was man glaubt zu sein, beruht in nichts anderem, als einer ungeheuren Denkschwäche. Nur wer im Denken schwach ist, kann glauben, er könne die Meinung anderer Menschen beurteilen, ohne sich mit dieser auseinanderzusetzen. Nur wer im Denken schwach ist, kann glauben es sei tolerant, diese andere Meinung niederzuschreien, damit auch niemand sonst sich mit ihr auseinandersetze. Andere, die auch „dumpf“ und „reaktionär“ sind.
So lebt unsere Gesellschaft dahin mit ihren großen und noch größeren Vorurteilen. Unendlich erhaben vorangegangenen Zeiten wähnt sie sich und ist doch in Wirklichkeit so furchtbar, so entsetzlich gedankenarm. So schlecht, so grotesk lächerlich schlecht sind sie, diese ganzen Intellektuellen und Aber-Intellektuellen, wie sie zu Tausenden und Abertausenden von unserer Gesellschaft abgesondert werden. Die Produkte ihrer selbstverliebten Infertilität so öde, so langweilig, so durchaus tot.
Die alten Griechen sahen in der Vernunft des Menschen den Unterschied zum Tier. Doch das einzige, wozu jene Intellektuellen mit ihrer Gedankenstümperei noch in der Lage sind, ist die Primitivierung, die Nivellierung, das Herabdrücken menschlicher Geistigkeit. Das Tiefe hoch, das Hohe tief. Das Schiefe grad, das Grade schief. Das Ungleiche gleich, das Gleiche ungleich. Das Wertlose wertvoll, das Wertvolle wertlos. So schreitet sie einher, die Vertierung des Menschen.