Am gestrigen 4. Juni jährte sich der Tod Wilhelms II. zum 71. Mal. Bei Facebook las ich von entsprechend interessierten Freunden und Bekannten wenige bis gar keine entsprechenden Statusmeldungen und Nachrufe, womöglich verbunden mit dem (trotz Seyß-Inquart) sehr gelungenen Zusammenschnitt aus Händels „Sarabande“ und Wochenschauberichten von den Begräbnisfeierlichkeiten im niederländischen Doorn 1941. Zwar wirkt so etwas immer ein wenig dick aufgetragen, doch war und ist es eine – für meine Begriffe – schöne, kleine Tradition.
Tote als Leinwände des Inneren
Doch fragt man sich angesichts solcher Todestage und entsprechender Reaktionen (gerade in sozialen Netzwerken) ab und an, wieviel Sinn es haben mag, Verstorbenen, die man vielleicht nicht gerade verehrt, aber die einem doch immerhin wichtig sind, derart öffentlichkeitswirksam zu gedenken. Zumal zeitgeschichtliche Personen wie Kaiser und so fort heute doch viel mehr als Ikonen für eine individuelle Sache stehen, die ihnen zu Lebzeiten vielleicht ferngelegen hat.
Paradebeispiel dafür dürfte wohl der seit 1968 allgegenwärtige Che Guevara sein; Felix Menzel hat das in seinem kaplaken-Bändchen über „Medienrituale“ gut herausgearbeitet. Wenn man sich also irgendeinen Todestag herauspickt, meinetwegen eben den von Wilhelm II., und sich diesbezüglich mit einem pompösen Video und einem markigen Spruch à la „Für Kaiser, Gott und Vaterland“ irgendwo im Internet verewigt – geht es dabei wirklich noch um den Kaiser an sich, oder sucht man nur nach einem eidolon, um die eigenen Sorgen und Sehnsüchte zu projizieren und an jemanden zu heften, der sich nicht mehr zu wehren vermag?
Ferne Echos in der Zeit
Und wie steht es mit Musikern, Schauspielern und ähnlichen Pop-Idolen? In jüngerer Zeit gab es im „Web 2.0“ allseitiges, wochenlanges Heulen und Zähneknirschen über Michael Jackson, Amy Winehouse, Whitney Houston und viele, viele andere. An schon länger Verstorbenen fallen mir aus persönlicher Neigung spontan Ian Curtis, Richey Edwards und Falco ein; ansonsten steht all überall natürlich Kurt Cobain hoch im Kurs.
Noch mehr als den politischen Ikonen wird im Netz alljährlich der dahingeschiedenen Protagonisten der Popkultur gedacht; kleine Widmungen und teilweise ergreifende Erinnerungen an Erlebnisse, die jemand mit der jeweiligen Kunst verbindet, runden die kleinen, digitalen Trauerfeiern – zumindest für den Rezipienten am anderen Ende der Datenleitung – geschmack- und würdevoll ab.
Die Trost-App bleibt aus
Es bleibt jedoch die Frage, inwieweit die (auch und gerade psychologisch) immens wichtige Trauerarbeit auf diese, sehr mechanisch-kalte und einsame, Weise gelingen kann. Wenn ich bei Facebook oder anderswo Gedenkbeiträge zu Todestagen von Verwandten oder Freunden der jeweiligen Autoren lese, empfinde ich das stets als sehr bedrückend. Wie will man dergleichen auffassen, wenn nicht als stille Bitte um Beistand bei der Bewältigung?
Vor Jahren, im ersten Semester meines Medizinstudiums, bekamen meine Kommilitonen und ich beigebracht, daß vereinsamte und verzweifelte Menschen bisweilen aus nichtigen Gründen Ärzte oder Anwälte aufsuchen – da diese von Berufs wegen pflichtbewußte Zuhörer sind. Es scheint, als hätte das Internet mit seinen Selbstdarstellungsmöglichkeiten diese Rolle längst übernommen – nur spenden LED-Bildschirm und Binärcode keinen Trost.