„Wie auf der Titanic“ – das las man häufiger in den zahllosen Artikeln über die Havarie des Riesen-Kreuzfahrtschiffes „Costa Concordia“, die seit mehr als einer Woche die Medienwelt auf und ab beherrscht. Wer hat versagt, was macht die Suche nach den Vermißten, wie erging es den Überlebenden, droht eine Ölpest, so dreht sich der Reigen um die immergleichen Themen.
Knapp hundert Jahre ist es her, daß das damals größte Schiff der Welt nach der Kollision mit einem Eisberg gesunken ist. 2200 Menschen waren an Bord, zwei Drittel von ihnen starben im eisigen Nordatlantik. Auf der „Costa Concordia“ befanden sich mehr als doppelt so viele Passagiere und Besatzungsmitglieder. Zwölf Tote wurden bislang geborgen, über zwanzig Personen werden noch vermißt. Das italienische Kreuzfahrtschiff hatte einen Granitfelsen vor der toskanischen Mittelmeerküste gerammt, war – das muß man dem Kapitän bei allem Versagen wohl zugute halten – noch ins ufernahe Flachwasser gesteuert und dort gekentert.
Als „unsinkbar“ hatte man beide Schiffe den Passagieren vorher angepriesen – die menschliche Hybris stirbt nicht aus. Aber damit enden auch schon die Gemeinsamkeiten. Man mag sich nicht ausdenken, wie diese Katastrophe auf hoher See verlaufen wäre.
Birkenhead-Prinzip: Frauen und Kinder zuerst
Angefangen mit dem Kapitän. Der italienische Kommandant Francesco Schettino, der von Bord türmte, sich bei einem Taxifahrer versteckte und beim Schiffsgeistlichen vor Überforderung ausheulte, der schließlich behauptete, er habe nicht zur Koordinierung der Evakuierung aufs Schiff zurückkehren können, weil er in ein Rettungsboot „gefallen“ und nicht mehr herausgekommen sei – weiß Gott keine Zierde seines Standes und kein Vergleich mit Kapitän Edward John Smith, der am 15. April 1912 ohne Zögern die Evakuierung seines Schiffes anordnete und leitete und als letzter Mann auf der Brücke in den Tod ging.
Auf „Kapitän Feigling“ als dankbares Objekt hat sich der deutsche Boulevard eingeschossen. In englischsprachigen Medien spielte ein anderer Aspekt eine bedeutende Rolle: Wie stand es eigentlich auf der „Costa Concordia“ mit dem berühmten „Birkenhead“-Prinzip: „Frauen und Kinder zuerst“?
Der Grundsatz war gut ein halbes Jahrhundert vor dem Untergang der „Titanic“ entstanden, als HMS Birkenhead vor der südafrikanischen Küste sank und der kommandierende Offizier den Soldaten an Bord befahl, den Frauen den Vortritt zu lassen. Sie wurden alle gerettet, die meisten Männer ertranken.
Multikulturelle Besatzung scherte sich wenig um Frauen und Mütter
So hielt man es auch auf der Titanic: Von den Frauen und Kindern der ersten und zweiten Klasse und von den weiblichen Besatzungsmitgliedern überlebten fast alle, von den Frauen der tiefer gelegenen Dritter-Klasse-Decks ohne direkten Zugang zu den Rettungsbooten immer noch fast die Hälfte; dagegen überlebten aus der dritten Klasse nur 16 Prozent und aus der zweiten sogar nur acht Prozent, von der Crew gerade jeder fünfte, während die Überlebendenrate der Männer der ersten Klasse mit einem Drittel genau im Durchschnitt lag. Viele der Reichen und Berühmten blieben freiwillig an Bord und gingen unter, wer davonkam, erntete in der besseren Gesellschaft schon mal schräge Blicke.
Und auf der „Costa Concordia“? Wo auf der „Titanic“ die Besatzung mit Waffengewalt den Vortritt der Frauen und Kinder durchsetzte, sollen auf dem italienischen Schiff körperlich überlegene Männer der aus aller Herren Länder zusammengewürfelten Besatzung Frauen und Mütter im Kampf um die Boote brutal auf die Seite getreten haben, zitiert Rich Lowry in der New Yorker „National Review“ einschlägige Berichte und resümiert: „Wir sind vom ‚Frauen und Kinder zuerst’ auf das ‚Rette sich wer kann’ heruntergekommen.“
Schrankenloser Individualismus und grenzenlose Barbarei
So sieht sie also im Ernstfall aus, die egalitäre, geschlechtergerechte Gesellschaft: Ritterlichkeit gilt als Relikt aus dem Mittelalter, allgemein akzeptierte Werte und Normen, wie sie sich in der klassenübergreifend hohen Todesrate der Männer auf der „Titanic“ niederschlagen, sind bedeutungslos geworden.
Nur einzelne Beispiele individuellen Heldentums – der Animateur, der sein „Superman“-Kostüm anlegt, um verängstigte Kinder sicher zu den Booten zu bringen – ragen aus dem Chaos heraus, das Führungs- und Verantwortungslosigkeit im Ernstfall anrichten. Wer lediglich seine Pflicht tut, wird als Held verherrlicht wie der italienische Hafenkommandant, der den desertierten Schiffskapitän in den Senkel stellte, weil der nicht einmal das Selbstverständliche leisten wollte. Das spricht für die tiefsitzende Sehnsucht nach der verlorenen Richtschnur.
Aber es gibt ja kein Gesetz, in dem drinsteht, „Frauen und Kinder zuerst“, heißt es achselzuckend. Nein, gibt es nicht. Die existentiellen Dinge, die eine Zivilisation zusammenhalten, stehen nicht in Gesetzen. Bei Schönwetter mag man auch ohne sie auszukommen glauben. Erst wenn der Spaßdampfer auf den Felsen läuft, wird offenbar, wie nahe schrankenloser Individualismus und Barbarei beieinanderliegen.