Der schöne Ulf Poschardt hat vor einigen Tagen darauf hingewiesen, daß Gier und Egoismus eben nicht nur bei „denen da oben“ zu finden seien. Und Anstand eben nicht nur beim „einfachen Mann auf der Straße“. Daß er in diesem Punkt prinzipiell Recht hat, erklärt sich von selbst. Es erklärt sich auch von selbst, daß das für jede andere Charaktereigenschaft auch gilt. Menschen menscheln. Wenn es um das Thema der „Finanzkrise“ geht, dann kommt man schnell auf die Sündenböcke: Diese Finanzjongleure, die „Wall Street“, Banker, Karrieristen und Manager, die uns ja schließlich die Finanzkrise eingebrockt haben. Haben sie doch, oder? War es nicht ihre Gier, ihre Unmoral, ihr Unvermögen?
Sicher, einige mögen gierig gewesen sein, einige inkompetent. Viele andere aber nicht. Angesichts des überkomplexen Finanzsystems müssen wir uns wohl eingestehen, daß dessen Steuerung auch „denen da oben“ unmöglich ist. Weder „die“ noch „wir“ verstehen das System. Es können Impulse in diese oder in jene Richtung gesetzt werden – Fachleute wissen vielleicht, welche – doch deren Auswirkungen bleiben in etwa so gewiß, wie das Wetter des nächsten Jahres. Wir verstehen diese Krise nicht. Wir kennen die Ursachen nicht (höchstens in Grundzügen), wir kennen die Folgen nicht.
Wir verstehen diese Krise nicht
Das Verfolgen der Nachrichten und das Lesen der unterschiedlichsten Einschätzungen hat oft keine andere Qualität als das Schauen eines spannenden Spielfilms oder des packenden Endspiels der Damenhockey-Weltmeisterschaft. Wenn wir es anschauen, ohne irgendeinen Einfluß nehmen zu können, dann ist es Entertainment. Wenn wir darüber schimpfen, dann können wir uns genau so gut über das Wetter aufregen.
Wir verstehen diese Krise nicht. Aber was verstehen wir dann? Ist die Ohnmacht gegenüber der Unübersichtlichkeit ein Grund zur Resignation? Nein. Denn wir verstehen ja doch Einiges: Ich kann in etwa abschätzen, wer mir 50 Euro leihen würde, und wem ich 50 Euro leihen würde. Ich habe ein Gefühl dafür, wer aus meinem Bekanntenkreis im Suff schweigen kann, und wer gerne mal Geschichten erzählt. Ich habe eine sehr differenzierte und fundierte Meinung darüber, ob der Sportverein um die Ecke eine neue Flutlichtanlage benötigt. Ich weiß, wer im Pfarrgemeinderat zuverlässig ist. Ich habe es selbst in der Hand, ob der Wirt in meiner Stammkneipe mich anschreiben läßt – oder nicht. Ich kann meinen Freundeskreis pflegen. Ich kann darauf verzichten, mir ein schönes Sofa zu finanzieren.
Im Alltag blicken wir eben nicht mit dem geistigen Auge auf die animierte Landkarte Europas, sondern leben in diesen Straßen und Häusern der Städte. Dort spielt die Musik. Dort sorgen wir vor. Wenn ich die Finanzkrise verstanden habe, aber meinen Nachbarn nicht kenne, dann nützt mir die Erkenntnis im Ernstfall rein gar nichts. Wenn ich ihn aber kenne, dann verrät er mir nach dem – wirklich großen – Crash vielleicht, wo es noch Flaschenbier gibt oder wann ich mich für Fleisch anstellen kann. Und falls es doch nicht zum Ernstfall kommt, also alles irgendwie so bleibt, wie es ist, dann kann ich mich immer noch über das Flutlicht mit ihm streiten und die entsprechenden Gelder beim Ortsbeirat beantragen. Ist doch alles gut, oder?