Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung erwartet – so wie es zur Zeit aussieht – durch den Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie eine Verbesserung ihrer Lebenssituation, trotz der damit verbundenen Opportunitätskosten, der Verringerung der allgemeinen Versorgung mit materiellen Gütern. Das Ausmaß der Opportunitätskosten ist dabei ebenso wenig abschätzbar, wie die Gesamtbilanz des Umweltgewinns nach dem Atomkraftverzicht.
So sind beispielsweise die Kosten für den Bau neuer Stromtrassen, die zum Transport der durch Windkraftanlagen in der Nordsee erzeugten Elektrizität in den Süden Deutschlands erforderlich werden, nur grob vorhersagbar. Gleichzeitig werden dadurch neue Umweltbeeinträchtigungen erzeugt. Der Nettonutzen der AKW-Abschaltung für die Lebensqualität wird dadurch geschmälert. Ob die Gesamtbilanz positiv sein wird, der Nutzen der AKW-Abschaltung also die Kosten übersteigt, ist somit nicht garantiert.
Geringe Steigerung der Umweltqualität – hohe Ausstiegskosten
Die Mehrheit der Deutschen ist diesbezüglich optimistisch, was mit dem relativ großen Reichtum der Deutschen erklärt werden kann. Der Einkommensverzicht, den die Abschaltung der Kernkraftwerke nach sich zieht, startet von einem hohen Niveauwert aus. Allerdings ist der Umweltgewinn relativ gering, da sich Deutschland auch auf diesem Gebiet auf einem hohen Niveau befindet und jede weitere geringfügige Verbesserung relativ hohe Kosten erfordert. Die deutsche Entscheidung basiert somit auf der Einschätzung, die relativ geringfügige Verbesserung der Umweltqualität ist den relative hohen Kosteneinsatz wert. Die Deutschen vermeinen sich in der Gesamtbilanz wohler zu fühlen. Andere Länder sehen das anders.
Wenn beispielsweise die Franzosen auf eine Abschaltung ihrer Kernkraftwerke verzichten, dann deshalb weil ihnen die Opportunitätskosten im Vergleich zu der dadurch gewonnenen Umweltqualität schlicht zu hoch sind. Selbst die Japaner werden kaum ihre noch funktionierenden AKWs abschalten. Offensichtlich schätzen sie selbst den Schaden, den die durch Erdbeben und Tsunami zerstörten Kernkraftwerke verursacht haben, vergleichsweise gering ein gegenüber den Kosten einer Abschaltung aller AKWs. Andere Länder, wie Finnland bauen sogar neue Atomkraftwerke, um dafür auf andere Formen der Energiegewinnung, etwa durch ölbetriebene Kraftwerke, verzichten zu können.
Für die politische Bewertung spielt das Wohlstandsniveau eine Rolle
Bei der Entscheidung für den Bau neuer Kernkraftwerke kann sogar die Einschätzung zugrunde liegen, daß Kernkraftwerke die Umweltqualität nicht verschlechtern, sondern im Gegenteil verbessern. Ob nun tatsächlich eine Verschlechterung oder Verbesserung vorliegt, muß nicht notwendigerweise objektiv nachgewiesen oder wissenschaftlich belegt werden. Diese Einschätzung ist, wie zuvor schon erwähnt, von einer Vielzahl willkürlich ausgewählter und eigenmächtig gewichteter Faktoren abhängig. Für die „Richtigkeit“ der einen oder anderen Ansicht ist letztlich die politische Bewertung ausschlaggebend. Wird allerdings Atomkraft als umweltfreundlich eingestuft, entfällt das Bestreben, AKWs abzuschalten.
Aber selbst wenn die Nutzung der Kernkraft als umweltschädlich oder gefährlich eingestuft wird, muß das in der politischen Bewertung noch nicht zu einer Abschaltung führen. Da spielt das Wohlstandsniveau eines Landes eine entscheidende Rolle. Für arme Länder bedeutet der Verzicht auf Atomkraft eine erhebliche Verschlechterung ihrer materiellen Versorgung. Diese wird als deutlich stärker wohlfahrtsmindernd eingestuft als der Wohlfahrtsgewinn durch die bessere Umweltqualität.
Nur reiche Länder können sich den Luxus des Ausstiegs erlauben
So wird auch erklärlich, daß gerade Schwellenländer wie China und Indien sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen werden, zahlreiche Atomkraftwerke neu zu errichten. Aus dem gleichen Grunde investieren diese Länder nebenbei auch kaum in andere Umweltverbesserungsmaßnahmen, etwa Filteranlagen ihrer Produktionsstätten zur Verringerung der Schadstoffemissionen. Hohe Umweltqualität ist ein Luxus, den sich nur die reichen Länder leisten können. Ärmere Länder versuchen das gleiche Wohlstandsniveau zu erreichen. Umweltgesichtspunkte und eventuelle Risiken der Kernkraftnutzung sind da von untergeordneter Bedeutung.
Die nächste Folge widmet sich den externen Effekten des Atomausstiegs. Zuvor wurden die Kosten und Nutzen des Atomausstiegs erörtert.