Politische Systeme, denen ein metaphysisches Zentrum fehlt, tendieren dazu, sich im Selbstlauf eines bürokratischen Automatismus zu verlieren. Entscheidungen ihrer Vertreter sind stets „alternativlos“; und doch weiß keiner warum, am wenigsten der Souverän, der seine Repräsentanten eigentlich gewählt hat.
Es gebricht ihnen an der Überzeugungskraft, die charismatische Herrschaftsformen auszeichnet, aber sie sind auch nicht notwendig langlebiger als diese, da ihnen die Nachhaltigkeit traditionaler Ordnungen mangelt. Der Vorteil von Demokratien, die sich häufig unter den bürokratisch-funktionalen Systemen finden, gegenüber den anderen Typen von Herrschaft, die Max Weber in seiner klassischen Dreiteilung unterschieden hat, liegt sicher nicht in der Identität von Herrschenden und Beherrschten (die ebenso das Regime eines populistischen Charismatikers fingiert), sondern in der Möglichkeit, erstere immer wieder abwählen zu können.
Es sollte gerade für Demokraten von Interesse sein, auf welche Weise Demokratien versuchen, ihr aus der Orientierung des politischen Personals am nächsten Wahltermin folgendes Nachhaltigkeitsproblem lösen: Die Schweizer Option besteht in der Unmittelbarkeit ihrer direkten Demokratie, denn das Volk ist stets traditionsbewußter als seine Repräsentanten und korrigiert deren Entscheidungen zumeist nicht im Sinne angeblich nötiger Reformen, sondern eher im Hinblick Altbewährtes.
Stiftung eines zivilreligiösen Gründungsmythos
Eine andere Möglichkeit zeigen die konstitutionellen Monarchien – de facto eher Demokratien mit erblichem Präsidentenamt –, die sich im zwanzigsten Jahrhundert gegenüber den „reinen“ Demokratien ebenfalls als stabiler erwiesen haben. Und eine dritte Variante bilden solche Staatsysteme, in denen religiöse Instanzen die Tagespolitik korrigieren oder determinieren.
Letzteres kennzeichnet orientalische „Theokratien“ wie den Iran oder westliche Diktaturen mit „klerikalfaschistischer“ Ausrichtung wie das Spanien Francos und ist grundsätzlich abzulehnen; ersteres wird mit der metaphysischen Überhöhung einer Verfassung, der Stiftung eines zivilreligiösen Gründungsmythos sowie mit einer transzendentalen Herleitung der Menschenrechte versucht und steht in der beständigen Spannung von Volksmeinung und Berufung seiner Funktionseliten auf unverfügbare Vorentscheidungen.
Daneben gibt es noch weitere, oft anachronistisch anmutende Beimischungen des religiösen oder kultischen Bereichs in die Politik – von der Aufgabe der britischen Queen, zugleich Oberhaupt der anglikanischen Kirche zu sein, bis hin zur „Elfenbeauftragten“ der isländischen Regierung. Oft kommt ihnen in der Praxis keine wirkliche Bedeutung zu, aber auch dafür gibt es Gegenbeispiele: etwa das „Staatsorakel“ der tibetischen Exilregierung, eigentlich das Orakel („Kuten“) des Nechung-Klosters, dem seit der Ausbildung des tibetischen Staates unter mongolischem Patronat ein Einfluß zugewachsen ist, der auch nach dem Verlust der Unabhängigkeit durch die chinesische Okkupation bis heute ungebrochen anhält.
Wachsende Bedeutung des Religiösen
Keine wichtige Entscheidung des Dalai Lama oder der Regierung wird ohne die Konsultation des „Nechung Kuten“ Thubten Ngodup getroffen, eines aus einfachen Verhältnissen stammenden Mönchs, dessen Autobiographie „Ich bin das Orakel des Dalai Lama“ kürzlich auch auf Deutsch erschienen ist.
Das populär gehaltene Buch besticht weniger durch die etwas lang geratenen (in der Sache so berechtigten wie notwendigen) Darstellungen der chinesischen Unterdrückungsmaßnahmen als vielmehr durch den merkwürdigen Gegensatz, der heute alles durchzieht, was Tibet und die tibetische Kultur betrifft: einerseits die große Beliebtheit des Dalai Lama und seine Präsenz in den Massenmedien, seine Rolle als „Gott zum Anfassen“ und „personifiziertes Gewissen“ einer (nicht so genau hinhörenden) globalen Gutmenschlichkeit, andererseits die Fremdartigkeit des tibetischen Buddhismus, sein spezifisches Amalgam aus buddhistischer Philosophie und schamanisch geprägtem Brauchtum sowie die archaische Praxis, bei der politischen Entscheidungsfindung auf den Rat eines in Trance versetzten, ekstatische Tänze aufführenden Mediums zu hören.
Dergleichen ist in Europa vor allem aus den antiken Mysterienreligionen bekannt und vertrug sich, namentlich in Athen, durchaus mit der Demokratie.
Die wachsende Bedeutung des Religiösen sowie die Herausforderung seiner Verbindung mit demokratischen Prinzipien sprechen dafür, daß Systemen mit einer metaphysischen Zentrierung eine längere Dauer beschieden sein wird als den rein materialistischen Ordnungen des Kapitalismus oder Kommunismus.