Erstaunlicherweise hat diejenige Wissenschaft, die als „Lehre vom Leben“ bezeichnet wird, bis heute nicht erklären können, was eigentlich ihr Forschungsgegenstand ist; lediglich gewisse Phänomene, die sich bei Dingen finden, die wir gemeinhin als lebendig bezeichnen, werden von der Biologie empirisch aufgelistet: Stoffwechsel, Wachstum, Fortpflanzung.
Da dies offenkundig nicht genügt und längst Maschinen denkbar sind, die sich nicht nur ernähren (von elektrischem Strom) und wachsen (durch Anschluß neuer Hardware), sondern sich im Prinzip auch fortpflanzen (indem sie ihre Software weiterentwickeln), stellt man sich Leben immer noch unter Zuhilfenahme von nichtbiologischen Zusatzhypothesen vor und bemüht Metaphern wie den „Odem Gottes“, eine „vis vitalis“ oder einen „Lebensfunken“.
Betrachtet man diese Begriffe genauer, erkennt man hinter ihnen mystisch überhöhte Versionen der klassischen „Elemente“: die „Luft“ des göttlichen Odems, ein kosmisch strömendes „Wasser“ oder ein sich plötzlich entzündendes „Feuer“. Diese drei Elemente werden als beweglich erfahren, nur das vierte, die „Erde“ als Prinzip der unbelebten Materie, verharrt in Ruhe und bedarf einer „Animation“.
Leben heißt Bewegung
Leben heißt also Bewegung. Doch auch diese metaphysischen Erklärungen fügen der biologischen Zusammenstellung von Merkmalen nur noch ein weiteres, gewiß nicht hinreichendes, Kennzeichen hinzu.
Wie Ernst Jünger in seinem „Arbeiter“ bemerkt hat, verfügt jede Epoche über eine Leitwissenschaft, die die grundlegenden Erklärungsmuster bereitstellt. Es gibt mathematische, physikalische, biologische und psychologische Kosmologien – Gott ist ein Baumeister oder ein Informatiker, die Welt ein Text oder der Urknall ein Orgasmus –, und Innovation besteht darin, die Fragen der einen Wissenschaft mit den Begriffen einer anderen zu beantworten, was zu immer neuen Theoriemodellen führt.
Die großen Fragen wurden zwar nie geklärt, aber sie konnten, aufgrund der Beachtung ihrer Vielschichtigkeit, präziser gestellt werden, und die Lösungsvorschläge wurden immer komplexer. Bei einigen, insbesondere den „theologischen“ Fragen, setzte sich die Erkenntnis durch, daß es für sie keine Lösungen gibt; die Scheinantworten, die auf sie gegeben wurden, waren in Wirklichkeit Dogmen, die mit der Macht der sie aufrechterhaltenden Institutionen schwanden und schließlich langweilig wurden.
Was man lange Zeit von Mathematik und Physik erwartete – die Aufstellung einer Weltformel, mit der sich die kleinsten und die größten Dinge beschreiben und alle künftigen Entwicklungen, angeblich nichts anderes als Bewegungen von Materieteilchen, berechnen lassen – hat sich tendenziell auf Informationswissenschaft und Biologie verlagert; und wenn es auch keine Weltformel geben wird, dann soll es wenigstens zu einer Formel des Lebens reichen.
Umtriebiger wie umstrittener Genforscher
„Leben ist Information“, sagt etwa der amerikanische Biologe Leroy Hood, aber besagt dies wirklich mehr als der Satz „Leben beruht auf Lebenskraft“ des alten, halbesoterischen Vitalismus? Auch dieser konnte nicht klarmachen, warum die Zeugungskraft lebendig sein soll, die des Magneten nicht. Welche Informationen bringen Leben hervor? Warum steckt gerade dieser genetische Code in einer lebendigen Zelle und warum nicht jener?
Einer, der von der theoretischen Behandlung solcher Fragen wenig hält, aber dem Experiment zutraut, manche der großen Rätsel doch noch zu lösen, ist der so umtriebige wie umstrittene Genforscher Craig Venter, der in seinem J. Craig Venter Institute molekulargenetische Pionierarbeit leistet, die er mit Hilfe seiner Firma Synthetic Genomics auch ökonomisch zu verwerten sucht, was er mit umfassenden Heilsversprechen verbindet: Hunger und Umweltverschmutzung sollen dank der Gentechnik bald der Vergangenheit angehören.
Nachdem ihm bereits die Digitalisierung des Genoms einer Bakterie und deren „Nachbau“ anhand dieses Codes sowie die Übertragung der Erbinformationen von einer Bakterienart in eine andere gelungen waren, konnte er Ende Mai die Produktion eines Bakteriums mit vollständig synthetisch hergestelltem Genom melden. Das künstliche Genom hat seinen natürlichen „Wirtskörper“ in Besitz genommen und seinem eigenen Programm unterworfen. Ist der Mensch aber nun wirklich Schöpfer des Lebens geworden oder doch – noch immer – nur Kopist geblieben?