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Nachtclubdichter (Teil 2)

Nachtclubdichter (Teil 2)

Nachtclubdichter (Teil 2)

 

Nachtclubdichter (Teil 2)

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Airen und Helene Hegemann beschreiben den Nachtclub als Ort ritueller „Aschenzeit“, als Ohnmachts-Nische, als Schlachtfeld des „nihilistischen Helden“. Hier mimt man Gleichgültigkeit („Coolness“), betäubt sich mit Drogen, unverbindlichem Sex und Stroboskop-Trance – und läßt sich vom satuierten Feuilleton zum Märtyrer stilisieren. Zugleich aber besteht Airen auf Anonymität, will seinen bürgerlichen Namen nicht preisgeben.

Warum? Aus Angst vor Repressalien seiner Branche. Weil er, wie im Interview zugegeben, als Unternehmensberater den Entzug von Aufträgen fürchtet. – Aber wieso sollte die Nacht-Literatur seine berufliche Kompetenz als studierter Betriebswirtschaftler in Frage stellen? Zumal kein Unternehmen ihn als Aushängeschild präsentiert, sondern hinter den Kulissen agieren läßt. Nein, es ist der Ton seiner Blog-Texte, der fürchten läßt, der eine ausgebrannte Kultur denunziert, ihre Nacht-Seite sichtbar macht.

Flexibel und angriffslustig

Wo doch alle Welt sich müht, das Vakuum durch bunte Werbewelten, Tempo und Wachstum zu überspielen: So posaunte der Sloterdijk-Schüler Cai Werntgen die schreiend komische These heraus, daß sich im „Endverbraucher der gordische Nihilismus-Knoten löst: Überwindung der Schwere des Geistes qua Komfort.“

Im aufsteigenden Wirtschaftsgiganten China scheint dieser Glaube ungebrochen. Nach der blutigen Ära des Maoismus peitscht die Partei nun die Dogmen der Freiwirtschaft in die Menschenköpfe samt der Illusion, daß künftiger Wohlstand jedem offenstehe. Wie sonst hätte Jiang Rongs Roman „Der Zorn der Wölfe“ (2004) in China solchen Rekord-Umsatz erzielt? Der erklärt den Wolf zum Wappentier der neuen Zeit: zwar rudelgebunden, aber (geographisch) flexibel und angriffslustig.

Da war die Nachtclub-Bloggerin „Mu Zimei” (auch Muzi-Mei) schon einen Schritt weiter. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich die junge Journalistin Li Li, die ab 2003 das ganze Web-Land in Aufruhr versetzte. Informierte sie doch täglich sämtliche Leser via Internet über ihre Nachtclub-Besuche. Wie bei den deutschen Vertretern dieser Literaturform gibt es bei Mu Zimei keinen Handlungsfaden. Es sind Kurzreportagen, Skizzen, Aphorismen. Und wie bei Airen ist eine Auswahl bereits als Buch erschienen. Ihr Pekinger Nachtleben ist noch keine Stätte des Nihilismus, sondern der Bindungslosigkeit. Die Autorin erzählt von schrägen Lounge-Freaks, einem Club-Hund namens „Cool“ und ihren sexuellen Abenteuern. Dabei geht sie kaum ins Detail, teilt dem Leser keine (Lust-)Gefühle mit, sondern setzt ganz auf Quantität.

Problem der modernen Gesellschaft

Das liest sich dann so: „Samstag abend Sex mit einem ehemaligen Liebhaber; Samstag abend Sex mit zwei Männern, einer nach dem anderen; heute habe ich geschrieben und eine Frau interviewt; heute abend kümmere ich mich um meinen Blog, dann sind noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen – und wenn ich danach noch Energie habe, will ich noch vögeln.“ Mu Zimei transportiert die „Flexibilität“ ins Private, feiert den vielfachen Wechsel. Diese Bindungslosigkeit gilt in China noch als Befreiung aus politischen und traditionellen Zwängen. Trotzdem kann sie ihren Traum von erfüllter Liebe nicht aufgeben.

Immer wieder fallen Wörter wie „übersättigt“. Als sie einen siechenden Clochard entdeckt, lautet der Kommentar: „Im Grunde glaube ich nicht an das Glück.“ Ergo ist es nur eine Zeitfrage, bis auch ihre Generation den Schritt „über die Linie“ zum Nihilismus vollzieht. Bis sich Befreiung zur Betäubung wandelt. Dort, wo Airen und Hegemann sich bereits befinden. Was Airen befürchtet, ist Mu Zimei passiert: Sie verlor den Job als Journalistin, und die politischen Machthaber sperrten ihren Blog.

Aber muß der einzelne all diese Stadien widerspruchslos erdulden? Läßt sich dem Kassandraruf der Nacht-Dichter nichts entgegenhalten? Der späte Martin Heidegger, wichtigster Vertreter des „heroischen Nihilismus“, analysierte in den „Zollikoner Seminaren“ (1969) das Problem Manisch-Depressiver. Dabei erklärte er die Grenze zwischen seelisch „Gesunden“ und „Kranken“ für fließend: Der Mangel an Welt-Offenheit der Manisch-Depressiven spiegele nämlich auch das Problem der modernen Gesellschaft wider. Beide finden keine angemessene Haltung zur Welt, die ihnen stets zu nah oder zu fern scheint.

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